Hannelore Faulstich-Wieland ist Professorin für Erziehungswissenschaft mit Schwerpunkt Schulpädagogik an der Universität Hamburg und zählt zu den renommiertesten Forscherinnen im Bereich Koedukation und Geschlechterverhältnisse im Bildungssystem. Ihr jüngstes Forschungsprojekt - „Soziale Konstruktion von Geschlecht in schulischen Interaktionen in der Sekundarstufe I“ – beschäftigt sich mit der Konstruktion von Geschlecht und wie die Schule diese beeinflusst. dieStandard.at: Frau Faulstich-Wieland, was genau sind die Inhalte ihres aktuellen Forschungsprojekts? Hannelore Faulstich-Wieland: In unserem derzeitigen Projekt geht es um Geschlechterdifferenz, die nicht natürlich, sondern in alltäglichen Interaktionen hergestellt wird. Die Biologie schreibt nur das Geschlecht zu, aber was das Geschlecht dann tatsächlich ausmacht, das verändert sich im Laufe des Lebens -- es wird im Umgang mit Gleich- wie Gegengeschlechtlichen gelernt, pro- und reproduziert und ausgestaltet. Und wir wollen versuchen, herausfinden, was in der Schule davon geprägt wird. dieStandard.at: Wo werden die Unterschiede zwischen den Geschlechtern in der Schule am meisten spürbar? Hannelore Faulstich-Wieland: Zum Beispiel bei den Fähigkeiten. Bei den Mädchen weiß man längst, dass es nicht eine Frage des Potentials ist, in welchen Fächern sie gut sind, trotzdem werden in der Bildung den Geschlechtern noch immer bestimmte Bereiche zugeschrieben. Schulfächer sind also nicht neutral, sondern mindestens zum Teil als geschlechtertypisch konnotiert: Sprachliche Fächer gelten als weibliche, mathematisch- naturwissenschaftliche als männliche Domäne. Wie sich dieser Aspekt in den Konstruktionsprozessen von Geschlecht niederschlägt, ist auch Gegenstand dieses Projektes. dieStandard.at: Welche Rolle spielt es dabei, ob ein Kind eine mono- oder koedukative Schule besucht? Hannelore Faulstich-Wieland: Wir vermuten, dass die konkrete Zusammensetzung einer Schulklasse - in diesem Fall ihre Ausgewogenheit oder Unausgewogenheit hinsichtlich des quantitativen Verhältnisses der Geschlechter - Auswirkungen auf die Interaktionen hat, deshalb wurde dieser Faktor zentral in die Untersuchung einbezogen. Besonders brisant für die Entwicklung einer Geschlechtsidentität ist die Zeit der Adoleszenz. Koedukative Schulen bieten durch das Zusammentreffen von Mädchen und Buben, Frauen und Männern einen Rahmen für Interaktionsprozesse, in denen Ausgestaltungen des Geschlechterverhältnisses und Konstruktionen von Geschlecht erfolgen. Wir haben deshalb drei Gymnasialklassen mit Schülerinnen und Schülern zwischen zwölf und dreizehn Jahren drei Jahre lang begleitet, beobachtet und Fallstudien beschrieben. In der einen Klasse waren mehr Mädchen, in einer mehr Burschen und in der dritten war das Geschlechterverhältnis ausgewogen. Der Schwerpunkt lag darauf, zu beobachten, was in der Interaktion der Schülerinnen und Schüler und im Unterricht passiert. dieStandard.at: Gab es deutliche Unterschiede in den Klassen, wie die Schülerinnen und Schüler untereinander agierten? Hannelore Faulstich-Wieland: Ja, das hat sehr mit der Klassenzusammensetzung zu tun. In der Klasse, wo die Mädchen in der Minderzahl waren, hatten alle Mädchen Kontakt mit den Burschen, aber nicht alle Burschen mit den Mädchen. Dort, wo weniger Burschen waren, verhielt es sich genau umgekehrt: Es hatten zwar alle Burschen mit den Mädchen Kontakt, aber nicht alle Mädchen mit den Burschen. Und in der ausgewogenen Klasse hatten so ziemlich alle mit allen Kontakt – was den Mythos von den „getrennten Welten“ widerlegt: Die Hälfte der Kinder hatte immer Kontakt über die Geschlechtergrenze hinweg. Interessant war, dass in der Klasse mit überwiegend Mädchen diese auch eine sehr starke Position innerhalb der Klasse einnahmen, auch im Umgang mit den Burschen. Sie wussten sich zur Wehr zu setzen, auch körperlich, und ließen sich nichts gefallen. Bei der Auswertung unserer Forschungsergebnisse möchten wir nun versuchen, herauszufinden, ob das generell an der Entwicklung der jungen Frauen und Mädchen liegt, am heute früher ausgeprägten stärkeren Selbstbewusstsein, oder ob es einfach nur daran liegt, dass die Mädchen in der Klasse in der Überzahl sind. dieStandard.at: Und was genau ist das Ziel der Studie? Hannelore Faulstich-Wieland: Mit den Forschungsergebnissen wollen wir einen Beitrag zur Theorie geschlechterbezogener Sozialisation wie zur Debatte um eine reflexive Koedukation liefern. Wir wollen die Fallstudien über die Klassen veröffentlichen, um die Entwicklung von Burschen und Mädchen in dieser Situation aufzuzeigen und versuchen, damit Hinweise geben zu können, wie man das Selbstbewusstsein von beiden Seiten in diesem Alter stärken kann. Und wir wollen darstellen, was im Unterricht in bestimmten Fächern passiert, wo zum Beispiel Burschen, teils unbewusst, automatisch ein größeres Zutrauen in ihre Fähigkeiten vermittelt wird. dieStandard.at: Es wird ja immer wieder heiß diskutiert, ob es Sinn macht, Mädchen und Burschen in einem gewissen Alter getrennt zu unterrichten. Was halten Sie davon? Hannelore Faulstich-Wieland: Ich stehe dem sehr skeptisch gegenüber. In Deutschland geht die Diskussion hauptsächlich darum, die Geschlechter zu bestimmten Phasen nur in bestimmten Fächern zu trennen. Ich bin jedenfalls dagegen, das als generelle Formel anzuwenden, denn wenn man das bürokratisch allgemein einführt, dann sind die negativen Rückwirkungen größer als die positiven Effekte. Man muss nämlich davor immer die Frage stellen, warum man das macht. Einen positiven Grund zu finden ist jedenfalls schwierig, weil die Argumente dafür fehlen. dieStandard.at: Was sind die gängigen Argumente für eine Trennung? Hannelore Faulstich-Wieland: Häufig wird unterstellt, dass die Mädchen das brauchen, um sich gut entwickeln zu können. Damit erzeugt man jedoch wieder eine bestimmte Geschlechterhierarchie. Argumentiert man, damit die Benachteiligung der Mädchen aufheben zu wollen, dann fühlen sich die Burschen benachteiligt und angegriffen. Mit der Trennung der Geschlechter macht nämlich jedes das seine wichtig. Außerdem unterstellt man damit, dass alle Mädchen und alle Burschen gleich wären, obwohl die Unterschiede innerhalb der Geschlechter in dem Alter in Wahrheit größer sind als zwischen den Geschlechtern. Es gibt genauso Mädchen, die hervorragend in Naturwissenschaften sind und Burschen, die darin wiederum schlecht sind. dieStandard.at: Sie halten also allgemein nichts von getrenntem Unterricht? Hannelore Faulstich-Wieland: Die Trennung hat natürlich auch hilfreiche Aspekte - ich finde nur, dass man das nicht generell einführen soll. Die Schwierigkeit bei der Trennung ist, kein Geschlecht zu bevorzugen und zu verhindern, dass sich die Burschen abgewertet fühlen. Andererseits ist die einzige Chance für eine Beobachtung, ein Geschlecht herauszuheben. Wir haben auch die Schülerinnen und Schüler selbst bei den Untersuchungen gebeten, einen Aufsatz zum Thema „Wie erlebe ich den Schulalltag jetzt, und wie wäre es, wenn Burschen und Mädchen getrennt wären?“ zu schreiben. In den koedukativen Schulen waren die SchülerInnen im allgemeinen auch pro koedukativ eingestellt. Das Hauptargument für die Koedukation war, dass sie dadurch das jeweils andere Geschlecht besser kennenlernen. Interessant war die Argumentation von Schülerinnen in reinen Mädchenklassen: Sie fanden, dass sie ja die Zeit am Nachmittag mit Burschen verbringen können und dass die Schule ja nicht zum Kennenlernen da sei. In der Unterstufe hielten sie die Trennung für wichtig, weil sie vermuteten, dass sie ausgelacht würden, wenn Burschen dabei sind, oder dass sich die Lehrer an den Burschen orientieren würden. dieStandard.at: Gab es auch Bewertungen von Fächern seitens der SchülerInnen? Hannelore Faulstich-Wieland: Im Sport, der in Deutschland für Burschen und Mädchen zusammen unterrichtet wird, gab es die vehementesten GegnerInnen und BefürworterInnen. Die Mädchen, die sich gegen eine Trennung ausgesprochen hatten, begründeten das damit, dass sie befürchteten, damit „auf Bodenturnen und Gymnastik festgelegt“ zu werden. Die Burschen glaubten, das der Sportunterricht für sie dann „noch härter“ werden würde. Die Mädchen, die für eine Trennung waren, schämten sich meist vor den Burschen oder kritisierten, dass die Lehrer sich im gemischten Unterricht nur nach den Burschen richten würden. dieStandard.at: Und wie war die Meinung der SchülerInnen zum Unterricht in naturwissenschaftlichen Fächern? Hannelore Faulstich-Wieland: Diese wurden in den Aufsätzen deutlich weniger genannt, als es in der öffentlichen Diskussion immer eine Rolle spielt. Oft ist an den koedukativen Schulen auch der Lehrer oder die Lehrerin das Problem, weil sie den Mädchen automatisch unterstellen, dass sie kein Interesse an dem jeweiligen Fach hätten oder dazu nicht fähig wären. dieStandard.at: Meist werden ja Mädchen von Burschen getrennt – wie erleben sie diese Trennung? Hannelore Faulstich-Wieland: Meist ist es für sie sehr spannend und sie werden dabei auch eingeladen, an der Thematik mitzudiskutieren. Es gab auch schon Experimente, wo man Burschen und Mädchen erst eine Woche getrennt und dann gemeinsam unterrichtet hat und die SchülerInnen konnten ihre Erfahrungen dann gut nutzen - es war für sie eine gute Gelegenheit, ganz subtile Dinge herauszufinden. Es ist dann spannend, zu sehen, was eigentlich alles anders ist. Diese Möglichkeit gibt es aber wie gesagt nur dann, wenn das ganze freiwillig erfolgt und nicht, wenn eine Trennung von oben verordnet wird. dieStandard.at: Ist Trennung der Geschlechter eigentlich auch im Grundschulbereich schon ein Thema? Hannelore Faulstich-Wieland: In der Grundschule ist das Verhältnis am unproblematischsten – da kommen Burschen und Mädchen eigentlich sehr gut miteinander aus. Bei unseren Befragungen, was die SchülerInnen von einer Trennung halten würden, haben wir dort sogar massive Angriffe und Proteste einstecken müssen, weil sie befürchteten, dass wir damit den Grundstein für eine Trennung legen wollten. dieStandard.at: Haben Sie persönlich einen Lösungsvorschlag für die Debatte rund umdie Geschlechtertrennung? Hannelore Faulstich-Wieland: Ich würde mir wünschen, dass stärker darüber diskutiert wird, was man an den koedukativen Schulen wie ändern kann, damit das gemeinsame Zusammenleben und –lernen von Burschen und Mädchen gut funktioniert. Derzeit liegt der Blick noch zu stark auf der Trennung, als Mittel um Verbesserungen herbeizuführen. In Deutschland steht dabei das Problem der Fiktion von Homogenität im Vordergrund und die LehrerInnen stehen unter dem Erfolgsdruck, dass die Trennung positiv sein muss. Heterogenität wird nicht als Chance gesehen, die jeweiligen Stärken der Geschlechter zu nutzen, es gibt aber auch keine systematische Beobachtung der Trennung an den Schulen. Das führt dann zu so schlimmen Beispielen, wie, dass Mädchen im Physikunterricht auf Anweisung der Schulleitung mit anderen Lehrbüchern arbeiten. Oder dass sich ein Infomatiklehrer beklagt, dass die Mädchen immer nur fragen, was zu tun ist, die Burschenklassen aber kreativ sind. Das sind dann unbeabsichtigte Nebenwirkungen der Trennung bei guter Absicht - in der Koedukation hingegen hätten die Mädchen die Möglichkeit, zu beobachten, dass auch die Burschen etwas nicht können. Das Zutrauen von Mädchen in ihre Fähigkeiten ist ohnehin geringer als bei den Burschen, daher halte ich es für wichtig, darauf hinzuweisen, dass sie toll sind, anstatt darauf, dass sie benachteiligt sind. Das Interview führte Isabella Lechner.