Vater mit zwei kleinen Kindern sitzt im Wohnzimmer, eines der Kinder klettert auf seinen Kopf, er zwickt die Augen zusammen
Selbst den besten Eltern passiert es hin und wieder, dass ihnen die Nerven durchgehen. Dann schreien sie die Kinder an, oder sie drohen ihnen. Ist das schon emotionale Gewalt?
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Christian kann sich nicht erinnern, wann er seinen Sohn das erste Mal angebrüllt hat. Als sein Kind ein oder zwei Jahre alt war, ist er jedenfalls selten laut geworden, wie er selbst sagt. Doch dann mit der Autonomiephase kam es immer öfters zu Wutausbrüchen. Nicht nur beim Kind, sondern auch bei Christian, der in Wirklichkeit anders heißt, aber für diesen Bericht anonym bleiben möchte. "Ich kann mich noch gut an eine Szene in der Garderobe erinnern, als mein Sohn seine Schuhe nicht anziehen wollte. Zuerst habe ich ruhig erklärt, dass Papa jetzt zu einem Termin muss, doch irgendwann sind bei mir die Sicherungen durchgebrannt. Ich habe geschrien, meinen Sohn fest angepackt und den Schuh gegen die Wand geschmissen. Der Kleine hatte Angst vor mir, hat sich in die Ecke gezwickt und geweint. Seinen Blick werde ich nie vergessen."

Sein Sohn war damals vier Jahre alt. Je älter das Kind wurde, desto öfters kam es zu solchen Szenen. "Danach habe ich mich immer total schlecht gefühlt, habe selbst geweint." Christian wusste, dass sein Verhalten falsch ist, doch er wusste auch, dass er sein Kind nie schlagen würde. "Der Kleine hat einen extremen Dickkopf, wenn ich nicht laut werde, geht bei ihm gar nix", sagt er. Von den eigenen Eltern und Freunden wurde sein Verhalten sogar bestärkt. Da hieß es: "Mit dem muss man strenger sein." Deswegen hat es lange gedauert, bis der Familienvater merkte, dass er ein Problem hat. Auch weil er sonst ein lieber Vater ist. Er verbringt viel Zeit mit seiner Familie. Vor allem im Vergleich zu den anderen Vätern in seinem Umkreis. Er spielt stundenlang mit den Kindern Lego, fährt an den Wochenenden in Tierparks, geht mit ihnen wandern, kuschelt mit ihnen und hört zu. Steht er allerdings unter Stress, ist sein Geduldsfaden extrem kurz. Dann bringen ihn selbst Kleinigkeiten wie verschütteter Kakao zum Schreien.

Letztlich war es seine Frau, die es nicht mehr aushalten konnte, dass Christian seine Wut immer am älteren Sohn entlud. Sie stellte ihrem Mann ein klares Ultimatum: Entweder Christian macht eine Therapie, oder sie würde ihn mit den beiden Kindern verlassen. Da war sein älterer Sohn bereits sieben Jahre alt, der jüngere drei.

Der 34-Jährige rief bei der Wiener Männerberatung an. Beim ersten Treffen vor Ort sagte der Berater, es sei gut, dass Christian gekommen sei. Aus der Erfahrung bei der Männerberatung sei der Weg von solchen "verbalen Auszucker" hin zur körperlichen Gewalt oft nur ein kurzer. Mit Therapie könnte er daran arbeiten, mit der Wut besser umzugehen.

Gewaltverbot in der Erziehung

In Österreich wurde bereits im Jahr 1989 das Gewaltverbot in der Erziehung eingeführt. Im Allgemeinen Bürgerlichen Gesetzbuch (ABGB) heißt es, dass "die Zufügung körperlichen und seelischen Leides unzulässig ist". Hausarrest, emotionale Erpressung und Ignorieren zählen ebenfalls zu emotionaler Gewalt. Doch das wissen viele nicht. Eine Studie des Gallup-Instituts für das Kinderschutzzentrum Möwe aus dem Jahr 2020 zeigt, dass nur drei Viertel der befragten Österreicher und Österreicherinnen gewaltfreie Erziehung als ideale Erziehungsform ansehen. Psychische Gewalt wird von vielen überhaupt nicht als Gewalt wahrgenommen.

Jede dritte Person in Österreich hat als Kind körperliche Gewalt erfahren, etwa jede fünfte Person psychische Gewalt. Nach wie vor bewertet auch heute nur rund die Hälfte der Erwachsenen in Österreich eine Ohrfeige eindeutig als Gewalt. Mehr als 20 Prozent der Befragten halten leichte körperliche Bestrafung sogar für notwendig in der Erziehung und stufen diese als nicht bedenklich ein.

Doch selbst Eltern, die Ohrfeigen oder einen Klaps auf den Po ablehnen, sind irgendwann einmal wütend. Etwa dann, wenn das Kind einen ignoriert oder sich verweigert. Was machen liebe Eltern, wenn sie schon hundertmal sanft und ruhig etwas gesagt haben und die Kinder dennoch nicht hören wollen? Genau, sie schimpfen. Oder sie setzen die Wenn-dann-Strafkanone. Denn sie wissen, dass Drohungen meist helfen. Die Frage ist: Sind solche Mittel auch schon emotionale Gewalt?

Ist Schimpfen emotionale Gewalt?

Die Münchener Psychologin Anke Elisabeth Ballmann, Leiterin eines privaten Fortbildungsinstituts für Erzieherinnen und Erzieher in Kindertagesstätten und Gründerin der Stiftung Gewaltfreie Kindheit, hat eine klare Antwort darauf: "Ja, das ist eine Form der Gewalt." Zwar würde Anschreien oder Schimpfen keine blauen Flecken oder sichtbaren Narben hinterlassen, es kann aber ebenso gravierende Auswirkungen haben wie körperliche Gewalt. Im Gehirn würde diese Seelenprügel, wie Ballmann sie nennt, ebenso im Schmerzzentrum des Gehirns verarbeitet wie physische Schmerzen. "So mancher gewaltvolle Satz aus der Kindheit brennt sich ein, und man erinnert sich ein Leben lang an Situationen, in denen er gesagt wurde und wie man sich gefühlt hat."

Wenn emotionale Gewalt zur Dauerbelastung wird, wirkt sich das langfristig auch auf den Körper aus: "Es ist längst bewiesen, dass viele Krankheiten ihre Ursachen in der Kindheit haben. Psychische Belastungen können Entzündungsprozesse im Gehirn ausgelöst, das Immunsystem wird geschädigt, und Menschen werden krank", sagt Ballmann.

Ähnlich sieht es auch Martina Wolf, Eltern-Kind-Beraterin und Gründerin der Elternpraxis am Augarten in Wien: "Neben körperlichen Strafen sind auch Abwertungen, Drohungen und Liebesentzug eine Art von Gewalt in der Erziehung." Kinder, die psychische Gewalt erleben, können sich zurückziehen, Ängste entwickeln oder aggressiv reagieren. Psychosomatische Symptome wie Schlafstörungen, Ticks oder Kopfschmerzen können auftreten. "Psychische Gewalt schädigt das Selbstwertgefühl", sagt Wolf. "Entwicklungsprobleme, Persönlichkeitsstörungen und Depressionen können Folgen sein."

Kleiner blonder Junge sitzt am Tisch und sieht nachdenklich zur Seite
Wenn Eltern ihr Kind als Strafe ignorieren, bringt das dieses in eine gefährliche Situation. Der Beziehungsabbruch setzt es unter Stress und erzeugt Angst davor, verlassen zu werden.
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"Was Eltern oft nicht wissen", sagt die Pädagogin Ballmann, "dass Kinder unter zehn Jahren nicht in der Lage sind zu verstehen, dass Eltern mehrere Gefühle gleichzeitig haben können." Sie verstehen also nicht, dass Mama oder Papa sie lieb hat, wenn er oder sie gerade schimpft. Für Ballmann steckt in jedem Schimpfen für das Kind ein "Ich bin nicht gut genug. Ich bin falsch, wie ich bin. Ich werde nicht geliebt. Ich bin schuld.". Das Wohl eines Kindes würde aber direkt mit der Liebe und der positiven Zuwendung seiner Eltern zusammenhängen. Schimpfen ist eine negative Form der Zuwendung. "Im schlimmsten Fall verknüpft ein Mensch Liebe mit Schimpfen", sagt Ballmann. Das wäre fatal, denn das sind die Menschen, die in missbräuchlichen Beziehungen gefangen sind. Sie haben gelernt: Liebe tut weh. Deshalb sei es wichtig, wieder in Beziehung zu gehen, wenn die Beziehung abgebrochen wurde.

Überlastete Eltern wüten schneller

Etwa indem Eltern sich beim Kind für ihr Verhalten entschuldigen und erklären, warum sie wütend geworden sind. Denn Eltern sind Menschen, und Menschen sind nun mal nicht perfekt. Der bereits verstorbene dänische Familientherapeut Jesper Juul war der Ansicht, dass Eltern ihre Gefühle vor Kindern nicht verstecken sollten. Eltern dürften vor dem Kind auch schreien oder weinen, solange sie damit nicht das Kind verletzten oder abwerten. Schließlich sind auch negative Gefühle menschlich.

"Mal laut zu werden ist kein Thema", findet auch Ballmann. Für die Psychologin kommt es aber auf die Intensität und die Häufigkeit an. Ihr geht es um das allgemeine Klima in einer Familie, nicht um ein paar Wetterkapriolen: "Ist die Familienstimmung insgesamt wohlwollend und liebevoll, dann entwickeln sich Kinder auch gut, wenn gelegentlich der Donner grollt. Wenn allerdings täglich gebrüllt wird und die Grundstimmung eine aggressive ist, sollten Eltern sich Unterstützung suchen."

Denn häufig flippen Eltern aus, weil sie überlastet sind. Wolf dazu: "Eltern wollen ihren Kindern nichts Böses. Sie wissen oft nur nicht, wie das Gute aussieht." In der letzten Gewaltstudie wurde präsentiert, dass 80 Prozent der Eltern selbst Gewalt als Kind erlebt haben. Davon 45 Prozent sogar schwere Gewalt. Was heißt das nun für den Umgang mit den eigenen Kindern? "In Stress- und Überforderungssituationen kann es passieren, den eigenen Kindern mit Gewalt zu begegnen", sagt Wolf. Meist würde das unbewusst geschehen. Aus den vielen Jahren als Eltern-Kind-Beraterin weiß sie: "Wenn Eltern solche Situationen reflektieren, sind sie oft von ihrem eigenen Verhalten erschrocken."

Wie gelingt gewaltfreie Erziehung?

Was brauchen Eltern und Kinder, damit gewaltfreie Erziehung gelingt? Schließlich erfordert Kindererziehung viel Kompetenz und ist ein 24-Stunden-Job. Wolf: "Überlastete Eltern brauchen andere Menschen, die ihnen zur Seite stehen, qualitative Kinderbetreuung und auch Elternbildung, damit Kinder und ihr Verhalten besser verstehbar sind und Eltern besser einschätzen können, was ihr Kind in welchem Alter verstehen und umsetzen kann."

Finanzielle Sorgen, Arbeitslosigkeit, Wohnungsnot, Paarkonflikte oder Partnergewalt sind für viele Eltern in Österreich Alltagsrealität. Expertinnen und Experten aus dem Kinderschutzbereich appellieren hier seit Jahren immer wieder an den Gesetzgeber. Auf der einen Seite wird in Österreich klar definiert, was das Kindeswohl fördert, auf der anderen aber nicht die Rahmenbedingungen für die Eltern geschaffen, um dies zu ermöglichen, lautet die Kritik.

Christian macht seit einigen Monaten eine Verhaltenstherapie. Der Psychotherapeut arbeitet mit ihm auch an den Dingen, die er selbst als Kind erlebt hat. "Meine Eltern waren immer liebevoll, doch mein Vater war teilweise aggressiv", sagt er. So wie Christian heute seinen eigenen Kindern gegenüber. Doch das hätte sich schon jetzt gebessert: Wenn die Wut kommt, geht Christian in einen anderen Raum und schreit laut oder boxt in das Polsterkissen. "Am Anfang war mir das echt peinlich, aber hinterher bin ich froh, dass ich die Wut nicht gegen meine Söhne gerichtet habe." Wenn er sich wieder beruhigt hat, erklärt er seinen Kindern zugewandt, was ihn aufregt, und sie suchen gemeinsam nach einer Lösung. "Meine Kinder merken dann, dass ich wütend bin, aber auch, dass ich sie lieb habe." (Nadja Kupsa, 30.4.2024)