Mein gesellschaftliches Thermometer zeigt mir an, dass ich der großen Mehrheit von Ihnen unbekannt bin. Die Organisatoren der diesjährigen Tangente aber wissen ungefähr oder sogar ziemlich genau, wer ich bin, und daher überrascht es mich, dass sie mich für ihre Verbündete halten. Ich bin nicht ihre Verbündete. Ich bin ihre Feindin.

Die Literatur ist meine Arbeit, so wie ihre Tätigkeit als Performerinnen, Musikerinnen, Sängerinnen, Tänzerinnen, Choreografinnen, Schauspielerinnen, bildenden Künstlerinnen und Schriftstellerinnen Arbeit ist; wenn Sie sie auf dieser und den anderen Bühnen der Stadt sehen werden, sehen Sie sie bei der Arbeit. Da wir die Produktionsmittel nicht besitzen (ich besitze einen Laptop, auf dem ich diese Rede schreibe), sind wir gezwungen, unsere Arbeitskraft zu verkaufen, um das Geld zu verdienen, das uns in diesem kapitalistischen System überleben lässt. Wegen dieser nicht zu leugnenden dialektischen Beziehung zwischen dem Festival Tangente St. Pölten, meinem Arbeitgeber, und mir, seiner Angestellten, bin ich ihre Feindin. Und wegen dieser nicht zu leugnenden dialektischen Beziehung, so straff wie das Seil eines Seiltänzers, hätte ich diesen Auftrag nicht ablehnen können, den Auftrag, heute vor Ihnen zu stehen und Ihnen zu erklären, was ich unter zeitgenössischer Kultur verstehe.

Porträtbild Cristina Morales
Preisgekrönte Schriftstellerin, Tänzerin und Choreografin, Produzentin einer Punkband, Rechts- und Politikwissenschafterin: Cristina Morales.
Foto: Foro de la cultura / Gerardo Sanz

Der Kern dieser Angelegenheit könnte, so hat es den Anschein, das Zeitgenössische sein. Doch ich denke, dass es nicht die Zeitgenossenschaft oder die Gegenwart ist. Des Pudels Kern ist in Wahrheit das Wort Kultur.

In Gesellschaften wie den unseren ist die Klage verbreitet, die Regierungen investieren zu wenig in Kultur, während die Militärhaushalte immer weiter wachsen. Diese Beschwerde wird normalerweise von den Vertreter:innen und Parteien der Linken geführt, davon ausgehend, dass Investitionen der öffentlichen Hand in Kultur Wohlstand generieren.

Ganz anders der anarchistische Philosoph Agustín García Calvo, dem der Franquismus seinen Lehrstuhl für Alte Sprachen nahm und ihn ins Exil verbannte: 1992 wandte er sich bei seiner Rede "Gegen den Frieden / Gegen die Demokratie" mit den folgenden Worten an Studierende der Universität: "[…] das Verteidigungsministerium hat in der entwickelten Welt eine geringe, nachrangige, bedingte Bedeutung. Vorrangige Bedeutung haben die Ministerien, die regieren und die mit der Verwaltung des Todes beauftragt sind. Eines des wichtigsten ist jenes, dem ihr unmittelbar zugeordnet seid, das Ministerium für Bildung und Kultur. […] In der entwickelten Welt gibt es keine Ausgabe, die mit den Ausgaben für Bildung und Kultur vergleichbar wäre, nichts kommt dem auch nur nahe. […] Hier bekommt man eine Vorstellung davon, dass sich die Dinge ein wenig verschoben haben. […] Schaut genau hin: Die verlassenen Kasernen werden zu großen Teilen zu Kultur- oder Bildungseinrichtungen. Die großteils verlassenen Kirchen werden zu Kultureinrichtungen. (Das gleiche Schicksal trifft die verlassenen Fabriken des vergangenen Jahrhunderts: In St. Pölten haben wir den paradigmatischen Fall des Chemiewerks Glanzstoff, heute ein kleines Museum.) All das sollte erkenntnisreich für euch sein: Es ist ja nicht so, dass die Kirche und die Armee (und die Fabriken) aufgehört hätten, furchtbar zu sein. Die Kirche und die Armee (und die Fabrik) sind einfach weiterhin da, in den Kirchen und den Kasernen (und den Fabriken), die für ihre neuen Aufgaben der wahren Religion rehabilitiert wurden."

Die Kultur des Neoliberalismus

Diese wahre Religion ist die Kultur des Neoliberalismus: diejenige, die all ihre Kräfte der Produktion und dem konstanten Konsum widmet, die noch den letzten Aspekt unserer Leben zu kapitalisieren sucht. Im Falle der Künstlerinnen also auch unserer Werke durch die Kulturabteilungen der öffentlichen und privaten Einrichtungen, was auf das Gleiche hinausläuft.

García Calvo sagte, wir sollen nicht Kultur nennen, was die politischen und wirtschaftlichen Mächte Kultur nennen, denn das sei für diese nichts anderes als das wichtigste Instrument, die Bevölkerung zu disziplinieren. Doch unter diesem Kulturapparat ist etwas Lebendiges. Die von den Mächtigen nicht als solche bezeichnete Kultur ist ein Gemeingut, und daraus nähren sich die Künste. Ich lade Sie ein, sich mit Ihren gut kalibrierten inneren Thermometern den Künstlerinnen zu nähern, die bei dem Festival Tangente arbeiten; den Momenten Aufmerksamkeit zu schenken, in denen wir etwas sehen oder hören und denken, "das ist es, was ich vermitteln wollte, und ich wusste nicht, wie".

Wenn sich diese intime Ansprache ereignet, die uns mit einer gemeinschaftlichen Klarheit verbindet, dann ist Kultur. Alles andere ist Kulturindustrie, indoktrinierte Maschinerie, Rechtfertigung von Gehältern. Davon bin ich, davon sind viele wie ich entschiedene Feindinnen. (Cristina Morales, Übersetzung: Friederike von Criegern, 30.4.2024)