Genau 20 Jahre nach der EU-Osterweiterung setzen die mittel- und osteuropäischen Mitglieder ihren wirtschaftlichen Aufholprozess schwungvoll fort. "Für die meisten Länder in der Region ist dieses Jahr viel besser als letztes Jahr", sagte Richard Grieveson, Vizedirektor des Wiener Instituts für Internationale Wirtschaftsvergleiche (WIIW) vergangene Woche. Das unterscheidet sie von den westlicher gelegenen EU-Ländern Österreich und Deutschland, deren Volkswirtschaften nach einer rezessiven Phase im Vorjahr auch heuer nur sehr schleppend Tritt fassen.

Menschen feiern mit einer Europafahne an einem Grenzübergang zu Deutschland den EU-Beitritt Polens am 1. Mai 2004.
Menschen feiern mit einer Europafahne an einem Grenzübergang zu Deutschland den EU-Beitritt Polens am 1. Mai 2004.

Als Folge erwartet das Institut heuer für die Visegrád-Länder Polen, Tschechien, Slowakei und Ungarn ein Wirtschaftswachstum um durchschnittlich 2,4 Prozent. Angetrieben werden die Volkswirtschaften vom privaten Konsum, der sich wegen deutlicher Reallohnsteigerungen in der Region als Wachstumsmotor erweisen soll. "Der Prozess, dass diese Länder sehr dynamisch wachsen, wird noch einige Jahre so andauern", sagt Wifo-Ökonomin Elisabeth Christen. Zum Vergleich: Für Österreich erwartet das Wifo heuer gerade einmal einen Minizuwachs der Wirtschaftsleistung (BIP) von 0,2 Prozent.

Win-win-Szenario

Waren also hauptsächlich die neuen Mitglieder Nutznießer der Erweiterung? "Wirtschaftlich haben sowohl die osteuropäischen Länder als auch Österreich wegen der geografischen und historischen Nähe immens profitiert", betont Christen. Zwar sind am 1. Mai 2004 insgesamt zehn Staaten der Union beigetreten, wirtschaftlich sind aber vor allem die große Volkswirtschaft Polen sowie die Nachbarländer Tschechien, Slowakei, Ungarn und Slowenien für Österreich relevant, weniger Zypern, Malta und die drei baltischen Staaten. Möglich wurde die für beide Seiten positive Entwicklung durch die Investitionen westlicher Unternehmen, die dadurch neue Märkte in den Beitrittsländern erschließen konnten.

"Für Österreich und andere westeuropäische Länder hatte das den positiven Effekt, dass die Unternehmen Zugang zu Märkten und Chancen erhalten haben", erklärt die WIfo-Ökonomin. Günstige Bedingungen wie ein geringeres Lohnniveau hatte kostengünstige Produktion vor Ort ermöglicht. Österreich befinde sich bei den Investitionen in die Region unter den Top fünf der Auslandsinvestoren. Diese Investitionen und der Zugang zu EU-Förderungen hätten im Gegenzug den wirtschaftlichen Aufholprozess der osteuropäischen Beitrittsländer angestoßen, sodass deren Lebensstandard gemessen am BIP pro Kopf Christen zufolge bereits etwa 80 Prozent des EU-Durchschnitts beträgt.

Rasch aufgeschlossen

Anders formuliert es RBI-Chefanalyst Gunter Deuber: "Heute beträgt die aggregierte Wirtschaftskraft der fünf zentraleuropäischen Länder Tschechien, Slowakei, Polen, Ungarn und Slowenien circa 150 Prozent der Wirtschaftskraft der Niederlande." Vor 20 Jahren sei dieses Verhältnis bei gerade einmal 80 Prozent gelegen. Der Wohlstand in dieser Region sei ihm zufolge verglichen mit dem EU-Schnitt dabei nie nachhaltig zurückgegangen, sondern habe lediglich mitunter phasenweise stagniert.

Teile einer Europa-Karte, auf der die neuen EU-Mitglieder mit Fähnchen markiert sind.
Mit Tschechien, Slowakei, Ungarn und Slowenien sind vier Nachbarländer Österreichs 2004 der EU beigetreten.
Thomas Imo

Die bisherige Erweiterungspolitik habe aber auch gezeigt, dass der wirtschaftliche Wandel nur ein Thema sei. "Die politische Entwicklung ist davon unabhängig", sagt Deuber. Die aktuelle politische Volatilität in einigen Ländern, etwa Ungarn, bereite auch Investoren Sorge. Dass sich einzelne Regierungen oder hohe Regierungsvertreter gegen die EU-Institutionen stellten, gefährde die Entwicklung des Binnenmarktes und gefalle vielen Investoren nicht. Deuber betont, dass nur ein geeintes Europa die Herausforderungen, die noch kommen würden, meistern könne. Die EU-Erweiterung müsse als wirtschaftliche Chance gesehen werden. Gezeigt habe sich aber auch, dass sich viele Staatshaushalte weniger konsolidiert hätten als erhofft.

Haar in der Suppe

Auch für Wifo-Ökonomin Christen stellen Probleme bei der politischen Integration der neuen Mitglieder das Haar in der Suppe der EU-Osterweiterung dar. Für österreichische Unternehmen sei sie dafür aber "sicher ein nachhaltiger Schub" gewesen. Auch hätten sich ursprüngliche Befürchtungen nicht bewahrheitet, dass ein zu starker Zufluss an Arbeitskräfte aus den Beitrittsländern den heimischen Jobmarkt überfordere. Christen räumt zwar ein, dass es nach Ablauf der siebenjährigen Übergangsfrist zu einem vorübergehenden Anstieg der Arbeitslosigkeit in Österreich gekommen sei, inzwischen habe sich die Lage aber ins Positive umgekehrt: Gerade in Bereichen mit Fachkräftemangel werde händeringend Personal gesucht.

Welche Lehren zieht RBI-Chefanalyst Deuber für künftige Erweiterungsrunden der EU? Folgende Themen lassen sich ihm zufolge herausfiltern: Jede Erweiterung habe auch eine geopolitische Komponente. Bisher sei man zu fokussiert gewesen auf den Binnenmarkt. Politische Systeme änderten sich Deuber zufolge und orientierten sich nicht an wirtschaftlicher Stabilität. Die EU müsse lernen, eine gewisse Machtpolitik bei wichtigen Themen einzunehmen, da einzelne Länder der EU in geopolitische Probleme hineingezogen werden könnten. Denn: "Nur mit einer wirtschaftlichen Integration kann man geopolitische Themen nicht lösen", betont Deuber. (Alexander Hahn, Bettina Pfluger, 30.4.2024)