Junge Menschen mit Flaggen von EU-Ländern
Freude auf den Beitritt: Junge Menschen formen 2003 eine Menschenkette in Zittau auf einer Brücke über die Neisse im Dreiländereck Tschechien, Polen, Deutschland. Zehn Länder traten am 1. Mai 2004 der Europäischen Union bei: Tschechien und Polen sowie Estland, Lettland, Litauen, Malta, die Slowakei, Slowenien, Ungarn und Zypern.
Foto: Picturedesk / AFP / Norbert Millauer

Die Erweiterung der Europäischen Union im Jahr 2004 war die größte in der Geschichte. Der Kontext, in dem sie stattfand, war kompliziert: Noch war die EU mit den Folgen des Zerfalls der Sowjetunion und dem Krieg im ehemaligen Jugoslawien konfrontiert, gleichzeitig brachte der zuvor eingeführte Euro neue Bedingungen für den Binnenmarkt. Die Verantwortlichen standen vor der schwierigen Entscheidung zwischen einer Vertiefung der Union und einer Erweiterung, zu der das internationale Umfeld sie drängte. Dass man nicht beide Ziele gleichzeitig verfolgen konnte, war damals klar.

Man kann sagen: Die Erweiterung 2004 wurde der EU eher von der Geschichte aufgezwungen, als dass sie Folge einer inneren Dynamik gewesen wäre. Der Zerfall der Sowjetunion war ein gewaltiger Impuls, der zur deutschen Wiedervereinigung und in weiterer Folge zu einer Kräfteverschiebung in der EU geführt hatte. Zudem zeigte der Krieg im ehemaligen Jugoslawien, dass das Ende des Kalten Krieges nicht automatisch Fortschritt, Wohlstand und Sicherheit bringt, sondern in einen neuen Krieg münden kann, mit all seiner Brutalität.

"Die Entscheidung zur Erweiterung der EU – auch auf Kosten ihrer Vertiefung – war strategisch richtig."

In dieser Situation musste sich die EU die Frage stellen, welche Folgen es hätte, wenn sie Mitteleuropa in einem Machtvakuum zurückließe. Natürlich hätte die Antwort nicht unbedingt der Beitritt dieser Länder sein müssen. Doch aus heutiger Sicht lässt sich sagen, dass die Entscheidung zur Erweiterung der EU – auch auf Kosten ihrer Vertiefung – strategisch richtig war. Es ist unwahrscheinlich, dass der mitteleuropäische Raum ohne diesen Schritt stabil geblieben wäre. Zwischen und in den Staaten der Region gab es eine Reihe von Konflikten, und niemand konnte vorhersehen, zu welchen Eskalationen es noch kommen könnte.

Ein Leuchtturm

Für die Staaten Mitteleuropas war die europäische Perspektive ein Leuchtturm, an dem sie ihre politischen Bemühungen ausrichten konnten. Die Übernahme europäischer Regeln schuf rechtliche, ökonomische und letztlich auch kulturell-politische Strukturen. Der Annäherungsprozess brachte eine Vertiefung der professionellen Beziehungen mit den Organen der EU und den Mitgliedsstaaten. Dass Rechtsvorschriften der Union als Muster dienten, beschleunigte die Transformation und vereinfachte die politischen Debatten. Es fiel das weg, was bei diesen Debatten meist am schwierigsten ist: das hohe Maß an Unsicherheit. Es war klar, wohin man wollte.

Die Entscheidung, alle mitteleuropäischen Länder (neben Tschechien auch die Slowakei, Slowenien, Ungarn, Polen, Estland, Lettland, Litauen, Malta und Zypern, Anm.) gleichzeitig aufzunehmen und nicht nach dem Regatta-Prinzip vorzugehen, also in einem Wettbewerb und mit schrittweiser Aufnahme der einzelnen Staaten, entsprach der geopolitischen Logik: Der Zerfall der Sowjetunion hatte ein Vakuum geschaffen, das auch ganz Mitteleuropa erfasste und nun berücksichtigt werden musste.

Vladimír Špidla
Vladimír Špidla war 2004 tschechischer Premierminister.
Foto: Imago / CTK Photo / Katerina Sulova

Grundsätzlich lässt sich der EU-Beitritt dieser Länder als erfolgreicher Prozess bezeichnen. Ihre sozioökonomische Entwicklung verlief weitgehend stabil, wenngleich natürlich mit Abweichungen. Insgesamt haben die Staaten sich gut in die europäischen Strukturen eingegliedert. Der Umgang mit der Krise von 2008, mit der Covid-Pandemie oder der aktuellen Kriegskrise hat gezeigt, dass die mitteleuropäischen Länder ein effektiver Bestandteil der Union geworden sind.

Allerdings war es ein schwerer Fehler, im Zuge des Beitrittsprozesses das europäische Budget nicht zu erhöhen. Dies trug auch zu den Krisen in Griechenland und in weiterer Folge auf der Iberischen Halbinsel und in Irland bei – in Ländern also, die bei der Nutzung der Strukturfonds ausgesprochen erfolgreich waren. Der Preis dafür war hoch und brachte eine neue Bruchlinie zwischen Nord und Süd.

Kein Selbstläufer

Mit der großen Erweiterung ging zudem eine Verringerung des inneren Zusammenhalts in der EU einher, was sich unter anderem an den gescheiterten Verfassungsreferenden in Frankreich und den Niederlanden zeigte. Eine weitere Vertiefung der EU wurde dadurch behindert. Der Intergouvernementalismus wurde auf Kosten gemeinsamer Entscheidungsprozesse gestärkt. Für den Zusammenhalt und die Handlungsfähigkeit der Union ist das ein unübersehbares Risiko.

Das Jahr 2004 hat also gezeigt, dass eine Erweiterung kein Selbstläufer ist, dass sie auf komplizierten politischen Entscheidungen beruht und dass dieser Prozess Auswirkungen auf das Funktionieren der Union als solcher hat.

"Der Kontext ist schwieriger als je zuvor seit dem Zweiten Weltkrieg."

Nun steht Europa erneut vor einer schweren Entscheidung, und wieder befindet es sich inmitten eines schwierigen historischen Prozesses. Man kann sagen: Der Kontext ist schwieriger als je zuvor seit dem Zweiten Weltkrieg. Wir sind mit einem Krieg in Europa konfrontiert und können nicht einfach zur Tagesordnung übergehen. Es zeigt sich, dass die Sicherheit der europäischen Staaten weit mehr vom Funktionieren der EU abhängt, als wir gedacht haben, und dass die Nato in diesem neuen historischen Kontext keine Universallösung darstellt.

Die strategisch logische Antwort ist der Beitritt der Ukraine zur EU. Dabei handelt es sich aber um eine äußerst komplizierte Angelegenheit – schon deshalb, weil die Ukraine ein großer Staat ist, der gerade Außergewöhnliches durchlebt. Wenn der Krieg einmal zu Ende ist, wird sie sich ökonomisch und moralisch in einer ganz anderen Situation befinden als jene Länder, die 2004 beigetreten sind.

Erweiterung und Vertiefung

Ohne tiefgreifende Änderungen in der Funktionsweise der EU werden wir nicht in der Lage sein, darauf zu reagieren. Dasselbe gilt für die Erweiterung um die Länder des Westbalkans. Die Welt steuert immer klarer auf ein Konzept des "Konzerts der Großmächte" zu. Für die EU ist es lebenswichtig, bei diesem Konzert mitzuspielen. Diesmal wird es aber nicht möglich sein, wie 2004 zwischen Erweiterung und Vertiefung zu wählen: Beides wird gleichzeitig ablaufen müssen.

Der ursprüngliche Impuls zur europäischen Einigung, ausgelöst durch den Zweiten Weltkrieg, ist inzwischen abgeklungen. Nun muss die EU auf neue, ganz grundlegende Impulse reagieren. Das wird alles andere als leicht sein – und es wird lange dauern. (Vladimír Špidla, Übersetzung: Gerald Schubert, 28.4.2024)