Es ist bekannt, dass die EU-Integration von Ländern mit unterschiedlichem Entwicklungsstand Nachteile für weniger entwickelte Länder mit sich bringen kann. Dazu gehören Deindustrialisierung, wachsende Ungleichheit und Arbeitslosigkeit oder ein Fiskaldefizit.

Dies stellt seit langem eine zentrale Herausforderung für die EU dar, die ja aus Ländern mit sehr unterschiedlichen Einkommensniveaus besteht. Viele Maßnahmen wurden bisher in der EU entwickelt, um dieser Herausforderung zu begegnen, darunter die Strukturpolitik oder die Verteilung der Darlehen der Europäischen Investitionsbank.

Wenn in den nächsten Jahren Länder wie Georgien, Moldawien und die Ukraine der EU beitreten, werden sich die Entwicklungsunterschiede noch einmal dramatisch verstärken. Das Pro-Kopf-Bruttoinlandsprodukt dieser Länder liegt lediglich zwischen zwölf und 14 Prozent des BIPs der EU. Zudem liegen deren wirtschaftliche und technologische Entwicklung weit unter dem Niveau der bisherigen osteuropäischen EU-Mitgliedsstaaten, ganz zu schweigen von den großen Volkswirtschaften in der EU.

Süd- und Osterweiterung der EU im Vergleich

Hier ist vor allem der Vergleich zwischen der Süderweiterung der EU in den 1980er-Jahren (Griechenland, Portugal und Spanien) mit der Osterweiterung von 2004 und 2007 hilfreich.

Die beiden Erweiterungen wurden von der EU auf sehr unterschiedliche Weise gehandhabt und führten zu sehr unterschiedlichen wirtschaftlichen Entwicklungspfaden. Das kann anhand eines wirtschaftlichen Komplexitätsindex veranschaulicht werden, der vom Growth Lab der Harvard University erstellt wurde. Er erfasst die Vielfalt, Komplexität und Weitläufigkeit der Exporte eines Landes. Ein höherer Wert für wirtschaftliche Komplexität bedeutet, dass ein Land einen höheren technologischen Entwicklungsstand und eine stärker wissensbasierte Wirtschaft erreicht hat und über ein größeres Potenzial für wirtschaftliches Wachstum verfügt.

Veränderungen in der wirtschaftlichen Komplexität (1995–2021)
Die Abbildung zeigt, dass die Länder Mittel- und Osteuropas nicht nur ein Wirtschaftswachstum zu verzeichnen haben, sondern auch ihre wirtschaftliche Komplexität während ihrer EU-Integration erhöhen konnten. Im Gegensatz dazu stagnierte die Entwicklung in den südeuropäischen Ländern seit Mitte der 1990er-Jahre, während Georgien, Moldawien und die Ukraine, die bisher nur in begrenztem Umfang in die EU integriert waren, im selben Zeitraum einen Entwicklungsrückgang erlebten. Die Abbildung basiert auf Berechnungen der Autorin anhand von Daten aus dem Harvard Atlas of Economic Complexity. Ein höherer Wert im Economic Complexity Index zeigt an, dass das Land seine wirtschaftliche Komplexität erhöht hat. Der MOE-Durchschnitt (in der Grafik blau) umfasst Bulgarien, die Tschechische Republik, Ungarn, Estland, Lettland, Litauen, Polen, Rumänien, die Slowakei und Slowenien. Die südeuropäischen Staaten sind aufgrund großer interner Unterschiede in Griechenland (gelb) beziehungsweise den iberischen Durchschnitt unterteilt. Letzterer umfasst Spanien und Portugal (orange). Der ENP-Durchschnitt umfasst Georgien, Moldawien und die Ukraine (grau).
Visnja Vukov

Die Bedeutung der staatlichen Kapazitäten

Die Integration in den EU-Markt hat in der Tat zu Verbesserungen in Mittel- und Osteuropa geführt. In anderen Fällen scheint sie jedoch lediglich den Status quo bewahrt oder sogar negative Auswirkungen gehabt zu haben. Warum ist das der Fall?

Die EU-Politik hat eine entscheidende Rolle beim Zustandekommen dieser Ergebnisse gespielt. Forschungsergebnisse zeigen, dass Entwicklungsunterschiede auch mit der jeweiligen Staatskapazität zusammenhängen, sprich der Bürokratie, ihrer relativen Autonomie und ihrer Fähigkeit, einen stimmigen Entwicklungsplan umzusetzen. Es zeigt sich, dass die EU die Kapazitäten der Staaten der Osterweiterung von 2004 und 2007 gestärkt hat, obwohl diese teilweise vor dem EU-Beitritt sehr gering ausfielen.

Die EU-Beitrittskriterien für die Osterweiterung verlangten von den Kandidaten unter anderem funktionierende Marktwirtschaften, die dem Wettbewerbsdruck im gemeinsamen Markt standhalten können. In Verbindung mit der finanziellen Unterstützung vor dem Beitritt trug dies zur Stärkung der Autonomie von Staaten bei.

Eine EU-Flagge knattert im Wind vor bewölktem Himmel. Straßburg, Elsass, Frankreich, 16.01.2023
Vor welchen Herausforderungen steht die EU bei der Süd- und Osterweiterung?
IMAGO/Dwi Anoraganingrum

Die EU verlangte auch institutionelle Veränderungen, die zur Stärkung staatlicher Institutionen wie der Justiz und der Bürokratie beitrugen. Im Gegensatz zu anderen internationalen Organisationen ging die EU über die bloße Forderung nach Marktliberalisierung hinaus. Stattdessen ermutigte sie die Staaten in Mittel- und Osteuropa, Institutionen zu schaffen, die eine marktfreundliche Industriepolitik umsetzen konnten. Dies führte zu der Herausbildung von Exzellenzclustern in den Bürokratien mittelosteuropäischer Länder, die entwicklungsfördernd waren.

Im Gegensatz dazu beschränkte sich die Beziehung zwischen der Ukraine und der EU vor dem Februar 2022 auf eine reine Handelsliberalisierung, ohne jegliche Auflagen zur Verbesserung der staatlichen Kapazitäten. Dadurch konnte das Land bis dato auch keine Entwicklungsfortschritte erzielen.

Warum stagnieren die südlichen Staaten der EU?

Keine der Anforderungen, die an die östlichen Erweiterungsländer gestellt wurden, wurde bei den südlichen Erweiterungsländern angewandt, als sie in den 1980er-Jahren beitraten. Anstatt diese Staaten bei der Bewältigung der mit der Integration verbundenen Entwicklungsherausforderungen zu unterstützen, stellte die EU lediglich finanzielle Mittel zur Verfügung, an die nur wenige Bedingungen geknüpft waren. In den meisten Fällen ermöglichten diese Mittel den südlichen Erweiterungsstaaten lediglich, ihre bereits bestehenden Wachstumsstrategien zu verstärken, die sich auf Infrastruktur, Bauwesen und Immobilien konzentrierten.

Diese Staaten mussten zwar dann einige Bedingungen erfüllen, bevor sie dem Euroraum beitreten konnten, aber diese Voraussetzungen waren nicht an die Fähigkeit, dem Wettbewerbsdruck im gemeinsamen Markt standzuhalten, gebunden. Folglich führte die Integration in den südlichen Erweiterungsstaaten zwar zunächst zu einem Wirtschaftswachstum, hatte aber kaum Auswirkungen auf die Komplexität oder den technologischen Entwicklungsstand ihrer Volkswirtschaften.

Lehren für künftige Erweiterungen

Welche Lehren sollte die EU daraus für ihre kommenden Erweiterungen ziehen? Erstens sind die entwicklungspolitischen Herausforderungen bei der Integration von Georgien, Moldau und der Ukraine angesichts ihres niedrigen Einkommensniveaus und ihrer wirtschaftlichen Komplexität noch größer als bei früheren Erweiterungen. Die Bewältigung der entwicklungspolitischen Folgen der Integration sollte daher höchste Priorität für die EU haben.

Zweitens sollte die EU nicht darauf vertrauen, dass die Marktintegration allein zu nachhaltigem Wachstum und wirtschaftlichen Verbesserungen führen wird. Die Verbesserung der staatlichen Institutionen sollte als eine Schlüsselkomponente der Entwicklung angesehen werden. Dazu gehören unter anderem die Justiz und die Bürokratie.

Drittens kann eine finanzielle Unterstützung zwar dazu beitragen, Ungleichheiten in einem gemeinsamen EU-Markt zu verringern, doch sollte die EU konkrete Entwicklungsziele ausdrücklich in ihre Integrationsagenda aufnehmen. Außerdem sollte sie die Unterstützung mit Plänen verknüpfen, die wirtschaftliche Komplexität zu erhöhen und die Beteiligung des Staates an globalen Wertschöpfungsketten zu diversifizieren und zu verbessern.

Schließlich zeigen die Erfahrungen der mittel- und osteuropäischen Länder, dass der Erfolg der Integration auch davon abhängt, wie die wirtschaftlichen Gewinne in den Ländern verteilt werden. Unzufriedenheit mit der Art und Weise, wie diese verteilt werden, kann einen fruchtbaren Boden für Nationalismus und Illiberalismus bereiten. Die EU muss die Erweiterung so gestalten, dass sie sowohl die nationalen Volkswirtschaften aufwertet als auch für mehr soziale Gleichheit sorgt. Nur so können wir die künftige entwicklungspolitische und demokratische Widerstandsfähigkeit einer erweiterten EU sicherstellen. (Visnja Vukov, 19.3.2024)