Wolodymyr Selenskyj war lange Jahre Schauspieler und Unternehmer. Die ernsten Probleme der Ukraine, Korruption, der übergroße Einfluss reicher Oligarchen, Nepotismus, werden in der satirischen Serie "Diener des Volkes" in kurzweiligen Geschichten vorgeführt und in überraschender Weise gelöst. Dieser Präsident, der von Selenskyj gespielte Geschichtslehrer Holoborodko, war im Film immer erfolgreich, weil er den aufgestellten Fallen geschickt auswich.

Wolodymyr Selenskyj
In der Ukraine zeigen sich die Folgen des langen Krieges, und im Westen bröckelt die Front der Unterstützer, gleichzeitig schwindet die Hoffnung der Bevölkerung auf eine Rückeroberung der gesamten Ukraine.
IMAGO/Pool /Ukrainian Presidenti

Diese Serie lief im Fernsehsender des ukrainischen Oligarchen Kolomoiskij 2015, Poroschenko war gerade zum Präsidenten gewählt worden. Als sich jener (wie alle seine Vorgänger) in kurzer Zeit in den Augen seiner Wähler:innen diskreditiert hatte und die nächsten Präsidentenwahlen 2019 heranrückten, trat Selenskyj mit seiner neu gegründeten Partei "Diener des Volkes" im Hintergrund an und fuhr einen überzeugenden Sieg ein.

Vom Schauspieler zum Präsidenten

Im ersten Wahlgang holte Selenskyj 30 Prozent der Stimmen, im entscheidenden zweiten Wahlgang waren es überragende 73 Prozent. Noch nie hatte ein Präsident so hoch gewonnen. Der überzeugende Sieg basierte vor allem aus dem Gegenprogramm zum amtierenden Präsidenten Poroschenko, der mit der Losung "Armee! Sprache! Glaube!" antrat.1 Dieses Programm stand für einen militärischen Sieg über Russland, die Zurückdrängung der russischen Sprache in der Ukraine mittels rechtlicher Schritte und Verbote und für die Vorherrschaft der mit seiner Unterstützung gegründeten eigenständigen (autokephalen) Orthodoxen Kirche der Ukraine.

Selenskyj hingegen wollte mit Russland um einen Frieden verhandeln, die russische Sprache im Land nicht mit administrativen Mitteln benachteiligen und er versprach, sich gegen die Vorherrschaft der Oligarchen und die Korruption einzusetzen. Nach seinem Sieg löste er das Parlament vorfristig auf und seine Partei "Diener des Volkes" gewann mit 43 Prozent am meisten Listenmandate. Zusammen mit den Direktmandaten hatte sie eine deutliche Mehrheit der Sitze.2

Wie alle seine Vorgänger konnte er sein Programm nicht gegen die erheblichen Widerstände im Land durchsetzen. Das alte Parlament beschloss noch vor seiner Auflösung ein restriktives Sprachengesetz, in dem das Ukrainische als einzig mögliche Sprache in Behörden und Gerichten administrativ durchgesetzt wurde. Die Möglichkeit der friedlichen Lösung des Konflikts mit Russland suchte der neu gewählte Präsident durch eine Wiederbelebung des Minsk II-Abkommens zu sichern, stieß aber auf den Widerstand nationalistischer Kräfte im eigenen Land.

Auch der russische Präsident erschwerte die Lage, indem er der Bevölkerung der Separatistengebiete des Donbass russische Pässe anbot. Die Auseinandersetzung mit den Oligarchen erwies sich als kompliziert, die Kritik an den Briefkastenfirmen Poroschenkos verpuffte, als sich aus den Panama Papers ergab, dass auch Selenskyj über eine solche verfügte. Kurz vor Beginn des russischen Angriffskrieges war die Zustimmung für ihn als Präsident auf 24 Prozent gesunken.3

Die russische Invasion als Chance für Selenskyj

Nach dem 24. Februar des vergangenen Jahres hatte Selenskyj eine neue Chance, sein Ansehen stieg durch seine Rolle als oberster Befehlshaber, vor allem seine täglichen Ansprachen an die Bevölkerung, die Mut machten, und durch seine internationalen Initiativen für die Unterstützung des Landes im Krieg. Trotz erheblicher Gefahren in den ersten Tagen des Krieges blieb Selenskyj im Land und öffentlich sichtbar. Sein Ansehen in der Bevölkerung stieg anfangs auf 90 Prozent. Seine Reden strotzten vor Siegeszuversicht. Er sagte voraus, dass die Krim im Ergebnis der ukrainischen Offensive des Sommers 2023 wiedererobert sein würde.

Auf große Erwartungen folgen große Enttäuschungen

Das Problem seiner siegeszuversichtlichen Reden war, dass deren militärischen Ergebnisse gänzlich anders aussahen. Unrealistische Vorhersagen führen zu Resignation. Im Herbst 2023 kritisierte der frühere, im Januar 2023 entlassene, politische Berater des Präsidenten, Alexej Arestowitsch, Selenskyj genau dafür, unrealistische Ziele gesetzt und in der Bevölkerung überzogene Erwartungen erzeugt zu haben. Außerdem unterdrücke das regierende Team Unternehmen, Bürgerrechte und politische Konkurrenten, und hätte eine innere Tyrannei errichtet. Er plädierte für Neuwahlen.4

Der frühere Präsident Poroschenko wurde in seinen Möglichkeiten eingeschränkt, an einer Auslandsreise gehindert. Ebenso ging es einem anderen politischen Konkurrenten, dem Kiewer Bürgermeister Klitschko. Jener kritisierte in einem Interview für eine Schweizer Zeitung Selenskyj für seine mangelnde Führung vor Beginn des Krieges und für unrealistische Zielsetzungen während des Kriegs. Angesichts der schwierigen militärischen Lage sei mehr Ehrlichkeit erforderlich.5

Vor allem aber erregte eine offene Auseinandersetzung zwischen dem militärischen Oberbefehlshaber Walerij Saluschnyj und der Mannschaft des Präsidenten über die Einschätzung der militärischen Lage die Öffentlichkeit. Saluschnyj meinte in einem Beitrag im "Economist", die militärischen Auseinandersetzungen seien in eine Sackgasse geraten und es sei für die Ukraine notwendig, von der gescheiterten Offensive zur Verteidigung überzugehen. Die eigenen Kräfte seien überschätzt, die Fähigkeiten des Gegners unterschätzt worden.6 Um zu siegen, sei erheblich mehr Unterstützung durch den Westen und die Mobilisierung von mehr Ukrainern für die Armee erforderlich. Selenskyj widersprach der Einschätzung des Generals bezüglich der Lage, von einer Pattsituation könne nicht die Rede sein.

Eine autoritäre Wende von Selenskyj?

Diese Kritik kommt in der Situation, in der sich in der Ukraine die Folgen des langen Krieges zeigen und im Westen die Front der Unterstützer bröckelt. Die Politik des Präsidenten, die auf den vollständigen Abzug der russischen Truppen aus allen ukrainischen Gebieten von 1991 setzt, verliert in der Bevölkerung an Unterstützung. Das kommt nicht aus heiterem Himmel, sondern ist in den Entscheidungen der politischen Mannschaft Selenskyj begründet: Die Demokratie in der Ukraine ist in den letzten zwei Jahren eingeschränkt worden. Parteien wie die im Land insgesamt bei den Wahlen 2019 stärkste Oppositionspartei, die "Oppositionsplattform für das Leben", die im Osten und Süden der Ukraine besonders stark waren, sind verboten worden.7

Die Nachrichtensendungen des Fernsehens wurden vereinheitlicht und der Zensur unterworfen. Die größte Kirche des Landes, die Ukrainische Orthodoxe Kirche wurde durch staatliche Maßnahmen in ihrer Tätigkeit schrittweise eingeschränkt. Das Parlament hat ein Gesetz, dass ihre Tätigkeit gänzlich verbieten würde, in erster Lesung angenommen. Ein Gesetz, das eine umfangreiche Einberufung von Männern wie Frauen zur Tätigkeit in der Armee erleichtern würde, ist in Arbeit. Beobachter warnen, dass dieses Gesetz zu stillem Widerstand unter den Betroffenen führen könnte. Wehrpflichtige Männer im Ausland, die sich der (geplanten) elektronischen Einberufung entziehen, sollen durch Entzug von Rechten bestraft werden.

Ein Präsident, der bei seiner Wahl 2019 große Unterstützung der unterschiedlichen sozialen Gruppen der Bevölkerung und aus allen Teilen des Landes genoss, ist gegenwärtig dabei, durch seine Politik massiv an Ansehen zu verlieren. Offenbar droht ihm dasselbe wie den allermeisten seiner Vorgänger: Er könnte bei einer nächsten Wahl sein Amt verlieren. Aber vor allem ist er – anders als im Film von 2015 der fiktive Geschichtslehrer Holoborotko – an den Herausforderungen der Politik in den harten Zeiten des Angriffskriegs Russlands gescheitert. (Dieter Segert, 15.1.2024)