Im Gastblog analysiert die Politikwissenschafterin Alina Nychyk, welchen Sieg das ukrainische Volk will und warum der Westen sein Bestes tun sollte, um das von Russland gebrochene Völkerrecht wiederherzustellen

Der russisch-ukrainische Krieg dauert seit 2014 an und eskalierte nach der umfassenden russischen Invasion der Ukraine im Jahr 2022 extrem. Da der Krieg die Europäerinnen und Europäer direkt beeinflusst, zum Beispiel aufgrund des Preisanstiegs und der ukrainischen Flüchtlinge in verschiedenen europäischen Ländern, wünschen sich viele ein schnelleres Ende des Krieges. In diesem Artikel werden die Ansichten der Ukrainerinnen und Ukrainer zum möglichen Ende des Krieges dargelegt (zum Beispiel dass 89 Prozent der Ukrainerinnen und Ukrainer den Beitritt der Ukraine zur Nato wünschen und 84 Prozent jegliche territorialen Zugeständnisse zur Beendigung des Krieges ablehnen) und die Zukunft der Ukraine als Demokratie diskutiert. Zudem wird erklärt, warum der Sieg der Ukraine von größter Bedeutung ist.

Das Kriegsende aus ukrainischer Sicht

Obwohl einige im Westen den Ukrainerinnen und Ukrainern raten, das Ziel einer Nato-Mitgliedschaft aufzugeben und einige Gebiete an Russland abzugeben, stimmen dem viele Ukrainerinnen und Ukrainer nicht zu. Die Frage des Beitritts der Ukraine in die Nato ist sehr interessant. Bevor Russland 2014 die Krim annektierte, befürworteten nur 18 Prozent der Ukrainerinnen und Ukrainer den Beitritt zur Nato, und 67 Prozent waren dagegen.

Nachdem Russland 2014 die Krim annektiert und den Krieg im Donbass angeheizt hatte, veränderten sich die Zahlen: 48 Prozent der Ukrainerinnen und Ukrainer waren für den Beitritt und 32 Prozent dagegen. Der Wunsch der Ukrainerinnen und Ukrainer nach einer Nato-Mitgliedschaft stieg nach der umfassenden Invasion sprunghaft an: Im Mai 2023 lag der Wert bei 89 Prozent (im Vergleich zu 82 Prozent im März 2023, 72 Prozent im Juni 2022 und 69 Prozent im April 2022).

EU Flagge und Ukraine Flagge, dahinter das Symbol der NATO
Zwar scheint eine EU- und Nato-Mitgliedschaft der Ukraine in weite Ferne gerückt zu sein, jedoch darf die Bedeutung eines engen Verhältnissen zu dem Staatenverbund und dem Militärbündnis nicht unterschätzt werden – auch nach einem Sieg der Ukraine.
REUTERS/VALENTYN OGIRENKO

Auch in der Frage der territorialen Integrität ist aus ukrainischer Sicht kein Platz für Zugeständnisse. Im Mai 2023 lehnten 84 Prozent jegliche territorialen Zugeständnisse an Russland auch angesichts des langanhaltenden Krieges und anderer Bedrohungen ab. Interessanterweise blieb dieser Indikator nicht nur in allen Monaten der russischen Invasion nahezu unverändert (82 Prozent im Mai 2022, 84 Prozent im Juli 2022, 87 Prozent im September 2022, 85 Prozent im Dezember 2022, 87 Prozent im Februar 2023), sondern es gibt auch keine wesentlichen regionalen Unterschiede – im Mai 2023 lehnten 86 Prozent im Westen und 75 Prozent im Osten der Ukraine jegliche territorialen Zugeständnisse ab.

Vor diesem Hintergrund wäre es aus mehreren Gründen für die ukrainische Führung riskant, einen Friedensvertrag zu unterzeichnen, der der öffentlichen Meinung zuwiderlaufen würde: Erstens würde dies ihre Wiederwahlmöglichkeiten gefährden, zweitens könnten die Ukrainerinnen und Ukrainer gegen ein unerwünschtes Abkommen protestieren (wie sie es 2019 taten, als Selenskyj die Steinmeier-Formel akzeptieren wollte), und drittens könnte die Umsetzung des Abkommens scheitern, wenn die Ukrainerinnen und Ukrainer sich nicht an seine Bedingungen halten würden. Daher haben jetzt die ukrainischen Delegierten bei Friedensverhandlungen nur beschränkte Handlungsmöglichkeiten.

Die Zukunft der Ukraine

Man sollte berücksichtigen, dass Russland seit Beginn des Krieges nie seine Optionen zur Beendigung dieses Krieges dargelegt hat. Gespräche zwischen ukrainischen und russischen Beamten in der Türkei oder Belarus brachten keinen Frieden. Doch während der Friedensverhandlungen im März 2022 zeigte die ukrainische Seite ihre Bereitschaft, über einen Verzicht auf ihre Nato-Bestrebungen und eine Neutralisierung der Ukraine nachzudenken. Diese Option war auch für die ukrainische Gesellschaft akzeptabel – 42 Prozent der Ukrainerinnen und Ukrainer gaben an, dass sie mit Sicherheitsgarantien der USA, Großbritanniens, Deutschlands, Frankreichs usw. anstelle einer Nato-Mitgliedschaft zufrieden wären. 42 Prozent hielten den Beitritt zur Nato für den einzigen Weg zum Schutz der Sicherheit der Ukraine. Jetzt hat sich die Situation geändert.

Nach erfolglosen Friedensgesprächen, russischen Gräueltaten und der Fortsetzung des Krieges sehen die Ukrainerinnen und Ukrainer keine Möglichkeit für Friedensverhandlungen mit Russland. Im Mai 2022 hätten 59 Prozent der Ukrainerinnen und Ukrainer Friedensgespräche mit Russland akzeptiert, doch im Mai 2023 waren nur noch 33 Prozent für Verhandlungen mit Russland und 63 Prozent dagegen. Im März dieses Jahres hätten 64 Prozent die Befreiung des gesamten Territoriums der Ukraine unterstützt, auch wenn der Krieg länger dauert und die westliche Unterstützung für die Ukraine verloren geht. Allerdings wäre es für die Ukraine trotz aller gesammelten Kriegserfahrungen und großer Motivation kaum möglich, ohne westliche Hilfe weiter gegen die russische Aggression zu kämpfen.

Doch besteht für die Ukrainerinnen und Ukrainer angesichts der Tatsache, dass der Krieg bereits seit eineinhalb Jahren andauert, eine Chance, sich auf ungünstigere Friedensabkommen zu einigen? Es könnte einige positive Veränderungen in Russland geben: Der Wagner-Aufstand zeigte Uneinigkeit im russischen Militär und Putins Schwäche, die Angriffe der Ukraine auf russischem Boden bringen den Krieg den russischen Bürgerinnen und Bürgern näher, und die Unzufriedenheit mit dem Krieg in Russland könnte sichtbarer werden. Aber wenn die russische Position gleich bleibt, werden die Ukrainerinnen und Ukrainer dann in der Lage sein, einige der obengenannten Ziele aufzugeben?

Es scheint Einigkeit darüber zu bestehen, dass eine Nato-Mitgliedschaft zwar wünschenswert ist, aber in absehbarer Zeit nicht zustande kommen wird. Es gibt Diskussionen über alternative Sicherheitsgarantien für die Ukraine, etwa nach dem Beispiel amerikanischer Garantien gegenüber Israel oder Taiwan. Wenn die ukrainische Führung vom Westen überzeugt wird, ein Friedensabkommen mit Russland abzuschließen, wird sie möglicherweise immer noch versuchen müssen, die ukrainische Bevölkerung davon zu überzeugen. Beispielsweise könnten die Entscheidungsträger die Notwendigkeit eines solchen Friedensabkommens öffentlich erläutern beziehungsweise es in den staatlich kontrollierten Medien bewerben. Obwohl die Nato- und die EU-Mitgliedschaften möglicherweise auf Eis gelegt werden könnten, ist es unwahrscheinlich, dass die Ukrainerinnen und Ukrainer territoriale Verluste hinnehmen würden.

Wenn man über die Zukunft der Ukraine nachdenkt, ist es wichtig zu betonen, dass die Ukrainerinnen und Ukrainer für die europäischen Werte der Demokratie und Menschenrechte kämpfen. Im Mai 2023 war es für 95 Prozent der Ukrainerinnen und Ukrainer wichtig, dass die Ukraine nach dem Krieg eine funktionierende Demokratie wird. Drei der wichtigsten Merkmale der Demokratie sahen die Ukrainerinnen und Ukrainer in Gerechtigkeit für alle, Redefreiheit sowie freien und fairen Wahlen.

Dieser Krieg hat leider einige Grundprinzipien der Demokratie beeinträchtigt: Es gibt eine gewisse Medienzensur, Männer im Alter von 18 bis 60 Jahren dürfen die Ukraine nicht verlassen, und Korruption bleibt weiterhin ein Problem. Daher ist es für die Ukrainerinnen und Ukrainer nach dem Sieg über Russland von entscheidender Bedeutung, dass sie dabei gestärkt werden, das Land auf der Grundlage demokratischer Standards wiederaufzubauen. Engere Beziehungen zur EU und zur Nato, aber auch ausländische Investitionen können dazu beitragen, schneller eine demokratische und wohlhabende Ukraine aufzubauen.

Warum ist der Sieg der Ukraine für Europa wichtig?

Auch wenn es manchmal den fälschlichen Eindruck erweckt, dass dieser Krieg weit von Europa entfernt ist, ist der Sieg der Ukraine für jede Europäerin und jeden Europäer wichtig. Als Russland 2014 die Ukraine angriff (und schon als es Georgien 2008 angriff), verstieß es gegen internationales Recht. Die Sicherheitsarchitektur in Europa nach dem Zweiten Weltkrieg wurde zerstört. Russland wurde in den Jahren 2008 und 2014 nicht aufgehalten, was im Jahr 2022 die umfassende Invasion in der Ukraine ermöglichte.

Wenn Russland jetzt nicht gestoppt wird und andere Großmächte kleinere Länder anzugreifen beginnen (zum Beispiel China beobachtet die weltweite Reaktion auf die russische Aggression und stoppt seine Pläne zur Besetzung Taiwans), würden wir in einer chaotischeren und instabileren Welt leben. Andere osteuropäische Länder, selbst wenn sie Mitglieder der Nato sind, können nicht sicher sein, dass Russland keinen Krieg gegen sie beginnen würde. Deshalb ist es für westliche Demokratien wichtig, bei der Wahrung von Frieden und Gerechtigkeit auf der ganzen Welt geeint und beharrlich zu bleiben. Der Sieg der Ukraine über Russland wäre ein Zeichen dafür, dass Gerechtigkeit erreicht werden kann und eine vereinte demokratische Reaktion die beste Antwort auf jeden Aggressor ist. (Alina Nychyk, 6.9.2023)