Es war ein schöner Frühsommernachmittag. An einer Wohnungstür im Karl-Marx-Hof klingelte es. Der 13-jährige George Czuczka öffnete. Vor ihm stand ein Polizist und fragte nach dem Vater, der hinzutrat. Der Kommissar sagte diesem, er sei verhaftet. "Soll ich meinen Mantel mitnehmen?", fragte Fritz Czuczka. Der Beamte bejahte und riet, auch das "Zahnbürstel" einzustecken, erinnert sich George. "Das nächste Mal, dass wir vom Vater gehört hatten, war, dass er in dem Sammellager war in Wien, im 20. Bezirk in der Karajangasse."

Gedenkstätte Karajangasse Sarah Leitgeb
Sarah Leitgeb leitet die Gedenkstätte und ist Lehrerin im Gymnasium am Augarten.
Regine Hendrich

George Czuczkas Schilderung stammt aus dem Jahr 2008, als er für das Austrian Heritage Archive interviewt wurde, eine Sammlung von Interviews mit in der NS-Zeit Emigrierten. Das von Fritz Czuczka erwähnte "Sammellager" war ein provisorisches Gefängnis, das die Nationalsozialisten eingerichtet hatten, als die herkömmlichen Haftanstalten aus allen Nähten platzten.

Seit den 1980er-Jahren ein Gedenkort

Der sogenannte Not-Arrest in der Karajangasse befand sich in einer stillgelegten Volksschule, deren Räumlichkeiten heute zum Gymnasium am Augarten gehören. Das Gymnasium hat schon früh eine Gedenkstätte mit allgemeinen Informationen zur NS-Zeit sowie zu Geschehnissen in der früheren Volksschule eingerichtet. Nun will die Schule die Ausstellung überarbeiten.

Gedenkstätte Karajangasse
Der Schaukasten vor der Gedenkstätte Karajangasse, die im Untergeschoß liegt.
Regine Hendrich

Durch Zufall erfuhr man am Wiener Wiesenthal- Institut für Holocaust-Studien (VWI) von dem Wunsch. Dort ist der Historiker Philipp Rohrbach tätig, der sich seit Jahren mit Not-Arresten in Wien auseinandersetzt. Er begleitet die Schule nun bei der Modernisierung der Ausstellung. Rohrbach findetan dem Projekt bemerkenswert, dass es ein "Bottom-up-Projekt" ist, das also durch Engagement Einzelner entstanden ist und nicht nach Plänen "von oben" realisiert wird.

Mehrere Not-Arreste in Wien

Not-Arreste befanden sich in Wien zum Beispiel auch in den Sofiensälen, in der Pramergasse sowie in der früheren Klosterschule Kenyongasse – diesem widmeten sich Rohrbach und die Historikerin Regina Fritz schon 2011 intensiv. Das Thema beschäftigt beide bis heute. In der Kenyongasse kam es auch zu Erschießungen. Vom Not-Arrest in der Karajangasse sind schwere Misshandlungen und die Androhung von Erschießungen bekannt.

Besonders viele Menschen wurden nach dem "Anschluss" im Frühjahr 1938 inhaftiert, als eine große Verhaftungswelle von politischen Gegnern sowie Jüdinnen und Juden erfolgte. Eine weitere Verhaftungswelle, dann insbesondere jüdischer Menschen, fand zur Zeit des Novemberpogroms statt.

Lange wenig beachtet

Bis heute wurde den provisorischen Gefängnissen von damals noch verhältnismäßig wenig Aufmerksamkeit geschenkt. "Es gibt keinen Ort, der sich den Not-Arresten gebündelt widmet", sagt Rohrbach."Wahrscheinlich hat die Radikalität der nationalsozialistischen Verfolgungs- und Vernichtungspolitik der darauffolgenden Jahre die Erforschung der Brutalität, die sich in diesen Gebäuden abspielte, in den Hintergrund gedrängt."

Gedenkstätte Karajangasse Philipp Rohrbach
Historiker Philipp Rohrbach vom Wiener Wiesenthal-Institut für Holocaust-Studien widmet sich seit Jahren dem Thema Not-Arreste in Wien.
Regine hendrich

Im Keller des jetzigen Gymnasiums am Augarten, da, wo früher die Volksschule war, befindet sich bereits seit 1988 eine Gedenkstätte. Dass sie dort unten ist, führt Besuchende etwas in die Irre, denn dort unten war gar niemand eingesperrt. Als Gefängnisse dienten Räume in oberen Stockwerken, darunter auch Klassenzimmer, wie zum Beispiel aus den Memoiren von Erich Katz hervorgeht, einem jüdischen Studenten, der infolge des Novemberpogroms in den Not-Arrest in der Karajangasse kam. Zu diesem Zeitpunkt habe dort "die Brutalität ihren Höhepunkt erreicht", sagt Rohrbach.

Inhaftierte waren verzweifelt

Zu Hunderten seien sie in einen Klassenraum ohne Schulbänke gepfercht worden, beschreibt Katz. Es habe "keine Schlafgelegenheit, keine Matratze, nichts" gegeben. "Da es ein früheres Schulgebäude war, waren die Fenster nicht vergittert. Einige Häftlinge stürzten sich in ihrer Verzweiflung von den Fenstern des oberen Stockwerks auf den Hof, um Selbstmord zu verüben", schildert Katz. Am nächsten Morgen habe ein Polizist befohlen, jeder Zehnte müsse vortreten. "Dann kam seine drohende Stimme: ,Sollte noch einer von euch Saujuden zwecks Selbstmord von den Fenstern stürzen, dann wird jeder Zehnte erschossen. Und wer sich einem Fenster nähert, kriegt eine Kugel.‘"

Katz wurde aus der Karajangasse ins Polizeigefängnis Elisabethpromenade ("die Liesl") verlegt, wo Gestapo-Beamte Personalien aufnahmen, den Gefangenen ihre Habseligkeiten abnahmen und wo es immer wieder Hiebe und Stiefeltritte setzte. Dann erfolgte der Transport zum Westbahnhof und von dort nach Dachau. Darüber schrieb Katz: "Die Leiden, denen wir unterworfen wurden, kann man mit Worten kaum beschreiben."

Bruno Kreisky war in der Karajangasse inhaftiert.
Regine Hendrich

Im Jahr 1999 wurde in der Schule in der Karajangasse dann offiziell die Gedenkstätte eröffnet. Sie ist seither öffentlich zugänglich, derzeit an Donnerstagen (nur Schultagen) von 16 bis 20 Uhr. Die Plakate, die sich der NS-Zeit und den Kenntnissen über den Not-Arrest in den Gemäuern des Gebäudes widmen, wurden als Schulprojekt bereits 1988 von dem Lehrer Michael Zahradnik mit Schülerinnen und Schülern gestaltet. Die Plakate wurden später haltbarer gemacht, inhaltlich entsprechen sie aber den Originalen. Sie stellen zum Beispiel dar, wer unter den Gefangenen in der Karajangasse war – einer hieß Bruno Kreisky.

Später startete eine engagierte Lehrerin ein Briefprojekt mit in der NS-Zeit aus dem Gymnasium vertriebenen ehemaligen Schülerinnen und Schülern. Kopien der Briefe liegen in der Ausstellung als dickes Buch auf. Ergänzungen der Schau wurden immer wieder als Schulprojekte realisiert, zum Beispiel wurde nachgeforscht, wie viele Schülerinnen und Schüler vom NS-Regime ermordet wurden.

Archiv in der Schule?

Die Ausstellung ist aber nicht mehr zeitgemäß. "Die Gedenkstätte ist nicht mehr auf dem neuesten Stand – sowohl inhaltlich als auch in Bezug darauf, wie man heute Wissen vermittelt", sagt Sarah Leitgeb, Leiterin der Gedenkstätte und Lehrerin amGymnasium am Augarten. Zum Beispiel werden keine Quellen genannt, und vieles von den Inhalten könnten die Schülerinnen und Schüler heute im Internet nachlesen statt in feuchtkalten Kellerräumen, wo elektronische Geräte zudem schnell kaputt würden. "Die Sammlung an Informationen könnte wachsen und laufend vor Ort ergänzt werden", sagt Rohrbach. Es könnte zum Beispiel ein Archiv in der Schule eingerichtet werden, ist eine der Ideen. Sie käme auch dem Wunsch Angehöriger entgegen, die gern mehr darüber wüssten, was Vorfahren an dem Ort widerfahren ist.

George Czuczkas Vater, um den es am Anfang dieses Artikels ging, schrieb aus dem Not-Arrest nur einen kurzen Brief. Dann hörte seine Familie zwei, drei Wochen, so schätzte der Sohn später, nichts von ihm. Der nächste Brief kam aus dem KZ Dachau. Doch der Vater hatte Glück: Er kam wieder frei. Die Familie flüchtete 1939 in die USA. Sohn George lebt noch immer dort. (Gudrun Springer, 28.3.2024)