Der Begriff der "Entartung" hat seit dem Zweiten Weltkrieg keinen guten Klang mehr. Sogenannte "entartete Kunst" wurde von den Nationalsozialisten unterdrückt oder zerstört, dabei gelten viele der damals geächteten Kunstwerke heute als Meisterwerke. In der Quantenphysik haftet dem Begriff, der im Englischen mit "degenerate" übersetzt wird und dort auch nicht viel freundlicher klingt, nichts Negatives an, im Gegenteil: Ultrakalte "entartete" Gase sind Schauplatz einiger faszinierender Phänomene. Von einem solchen berichten nun Teams der Universität Innsbruck und der ETH Lausanne in der Schweiz in einer Studie im Fachjournal "Nature".

Eine künstlerische Darstellung eines Fermi-Gases in einer Vakuumkammer, das mithilfe von Licht festgehalten und manipuliert wird.
Universität Innsbruck/Harald Ritsch

Solche kalten Gase, auch Quantengase genannt, sind eine beliebte Spielwiese von Experimentalphysikgruppen in aller Welt, seit der indische Physiker Satyendranath Bose dem großen Albert Einstein einen Brief schrieb und sie gemeinsam zeigten, wie sich Gase aus vielen Teilchen quantenphysikalisch beschreiben lassen. Ergebnis dieser Anstrengungen war allen voran das sogenannte "Bose-Einstein-Kondensat", ein exotischer Aggregatzustand, der nur knapp über dem absoluten Nullpunkt auftritt und für dessen Erzeugung 2001 der Nobelpreis für Physik vergeben wurde.

Im Prinzip lassen sich Effekte wie das Bose-Einstein-Kondensat als Varianten eines Phänomens verstehen, das sich auch in unserem Alltag beobachten lässt. Dinge, die gekühlt werden, kommen dadurch zur Ruhe und gehen in geordnetere Zustände über. Als einfachstes Beispiel kann Wasser dienen, das zu Eis gefriert.

Bei extremer Kälte, wie sie uns im Alltag nie begegnet, gibt es eine ganze Reihe weiterer Manifestationen dieses Mechanismus, darunter Phänomene wie Supraleitung, die elektrischen Strom widerstandslos fließen lässt, oder Suprafluidität. Für viele dieser ungewöhnlichen Phänomene sind im Kern eigentlich Bose-Einstein-Kondensate verantwortlich.

Die Vorgänge, die zur Bildung von Bose-Einstein-Kondensaten führen, sind unglücklicherweise nicht besonders anschaulich. Im Prinzip läuft es darauf hinaus, dass dabei die Teilchen eines Gases allesamt so sehr abkühlen, dass sie sich irgendwann alle gewissermaßen im "kühlsten" möglichen Zustand wiederfinden. Genau genommen ist es der Zustand mit der niedrigsten Energie. Die besonderen Gesetze der Quantenphysik bedingen, dass sie durch diesen Prozess ununterscheidbar werden. Das erst lässt die ungewöhnlichen Eigenschaften von Bose-Einstein-Kondensaten hervortreten.

Fermi-Gase als neues Hoffnungsfeld

Doch nicht alle Teilchen sind dazu fähig. Es kommt auf den "Spin" an, eine Art inneren Drehimpuls von Teilchen, der leider ebenfalls nur in der Quantenphysik vorkommt und wenig anschaulich ist. Bose-Einstein-Kondensate entstehen nur aus Teilchen ohne Spin, die Bosonen genannt werden, während spinbehaftete Teilchen nicht in der Lage sind, gemeinsam den kältestmöglichen Zustand zu besetzen. Sie heißen Fermionen, bleiben immer unterscheidbar und bilden kein Bose-Einstein-Kondensat.

Diese ausführliche Einleitung hat den Zweck, die historische Entwicklung abzubilden, denn während in den vergangenen Jahrzehnten Bose-Einstein-Kondensate intensiv beforscht wurden, wandte sich der Fokus der Aufmerksamkeit zuletzt zunehmend Gasen aus Fermionen zu. Diese Fermi-Gase bilden zwar kein Bose-Einstein-Kondensat, doch dafür lassen sich dort andere Phänomene beobachten.

Ein Beispiel dafür ist die eingangs erwähnte Entartung. Können nicht alle Teilchen in den Grundzustand fallen wie beim Bose-Einstein-Kondensat, dann haben manche Teilchen eine höhere Energie, als sie eigentlich besitzen sollten. Das schlägt sich ab einer bestimmten Dichte auch im Verhalten des Gases wieder. Man spricht in diesem Fall von einem entarteten Fermi-Gas.

Das neue Ergebnis berichtet nun von einem weiteren Phänomen. Und wieder geht es darum, dass Teilchen, diesmal Lithiumatome, sich durch das Abkühlen zu einer sonderbaren Ordnung arrangieren.

Forschende der Universität Innsbruck erklären ihre Arbeit mit ultrakalten Gasen.
Universität Innsbruck

Dichtewellen

"Dichtewellen werden in einer Vielzahl von Materialien beobachtet, unter anderem in Metallen, Isolatoren und Supraleitern", sagt Farokh Mivehvar von der Universität Innsbruck. "Die Untersuchung in der Nähe des absoluten Nullpunkts sind jedoch schwierig, vor allem, wenn die Ordnung der Teilchen mit anderen Arten der Organisation wie Suprafluidität einhergeht."

Um sie herzustellen, gingen die Forschenden von einem entarteten Fermi-Gas aus und brachten es zwischen zwei Spiegel, die einen sogenannten optischen Resonator bildeten. Die Vorrichtung reflektiert Licht hin und her. Den Teams gelingt es so, viele Lithiumatome miteinander zu koppeln. Der Vorteil: Die Stärke dieser Kopplung lässt sich auf diese Weise gut justieren.

Auf diese Weise gelang es, die Bildung von Dichtewellen anzuregen und diese Bildung präzise zu steuern. "Die Kombination von Atomen, die im Fermi-Gas direkt miteinander kollidieren, während sie gleichzeitig Photonen über große Entfernungen austauschen, ist eine neue Art von Materie, bei der die Wechselwirkungen extrem sind", sagt Jean-Philippe Brantut von der ETH Lausanne. "Wir hoffen, dass das, was wir dort sehen werden, unser Verständnis einiger der komplexesten Materialien, die in der Physik vorkommen, verbessern wird."

Von Interesse sind Dichtewellen, weil sie Einfluss auf den Effekt der Suprafluidität haben können. Er hat auch technologische Relevanz, etwa wenn es um die Kühlung supraleitender Magnetspulen geht, die oft in Suprafluidem Helium gekühlt werden.

Neben diesen Einsichten kann die Forschung an ultrakalten Gasen als Bemühung verstanden werden, diese extrem fragilen Systeme bestmöglich zu kontrollieren. Gruppen wie jene aus Innsbruck und Lausanne entwickeln laufend neue Methoden zur Behandlung dieser Effekte.

"Ultrakalte Gase waren schon bisher dafür bekannt, dass die Wechselwirkungen zwischen den Atomen sehr gut kontrolliert werden können", sagt Brantut "Unser Experiment erweitert diese Fähigkeit noch einmal. (Reinhard Kleindl, 25.5.2023)