Im Gastblog erzählt der Historiker Oliver Jens Schmitt die Geschichte eines albanischen Pilgerortes.

Ende August, zwischen dem 20. und dem 25. des Monats, pilgern zehn-, ja hunderttausende Albaner, Anhänger des Derwischordens der Bektashi, auf den heiligen Berg Tomorr im südlichen Albanien. Es ist dies eine der größten Pilgerfahrten des Balkans, die sich auch zu einem touristischen und kommerziellen Phänomen entwickelt hat.

Von Kerbala nach Südalbanien

Der Tomorr erhebt sich als beeindruckendes Bergmassiv nahe der Stadt Berat. Über 19 Kilometer misst er in der Länge, sechs Kilometer in der Breite, der höchste Gipfel erreicht 2.416 Meter. So bietet der Berg genügend Platz für die zahlreichen Pilger und Pilgerinnen, die mit Kraftwagen den Berg hinauffahren und dort mit Familie und Freundeskreis feiern. Sie pilgern zur Türbe, dem Grabmal, von Abbas Ali, einem legendenhaften Schwager Hasans und Hüseyins, der Söhne Alis, des Schwiegersohns Mohammeds. Ali wird neben Allah und Mohammed von den Bektashi tief verehrt, und in den Tekkes, den "Klöstern" der Derwische, finden sich zahlreiche Porträts von ihm. Vor kurzem wurde auf dem Tomorr auch ein Bronzestandbild von Abbas Ali hoch zu Pferde errichtet. Dies erinnert an die Legende, die von ihm erzählt wird: Abbas Ali soll nach der Schlacht von Kerbala (10. Oktober 680), der vernichtenden Niederlage der Schiiten gegen die Sunniten, entkommen und mit einem Pferd durch die Lüfte auf den Tomorr geflogen sein, wo er an einem 25. August eingetroffen sei. Die Hufe seines Pferdes hätten sich in die Flanken des Berges eingegraben. Abbas Ali habe heldenhafte Kämpfe gegen Barbaren ausgetragen, fünf Tage gerastet und sei dann auf den Berg Athos geflogen, wo er sich niedergelassen habe.

Statue
Ein Statue von Abbas Ali auf dem Berg.
Foto: O.J. Schmitt

Die Legende zeigt, dass sich in der Verehrung von Abbas Ali schiitische mit christlichen Elementen vermischen. Denn der Athos ist der heilige Mönchsberg der Orthodoxie. Tatsächlich standen und stehen die Bektashi den orthodoxen Christen viel näher als Sunniten. Begründet von Hacı Bektaş Veli im Anatolien des 13. Jahrhunderts, weist dieser mystische Zweig des Islams zahlreiche Elemente auf, die auf schiitischen Einfluss hindeuten. In Anatolien und dann auf dem Balkan pflegten die Derwische engen Austausch mit orthodoxen Christen. Als Mystikern geht es ihnen um die Gottesschau.

Gottesschau und Nationalbewegung

Im osmanischen Reich des 19. Jahrhunderts verfolgt und in der kemalistischen Türkei sogar verboten, verlagerte sich der Schwerpunkt der Bektashi im 20. Jahrhundert nach Albanien. Als politische und konfessionelle Gegner des sunnitischen Sultan-Kalifen in Istanbul förderten sie im ausgehenden 19. Jahrhundert die albanische Nationalbewegung. Bektashi leisteten wichtige Beiträge zur Idee, dass Christen und Muslime gemeinsam unter dem Dach einer albanischen Nation leben könnten, eine Vorstellung, die vielen Sunniten fremd war (und teilweise heute wieder ist).

In den Tekkes der Bektashi hängt daher neben der grünen Fahne auch immer die albanische Nationalflagge mit dem doppelköpfigen Adler, der der byzantinisch-orthodoxen Tradition entlehnt ist. Trotz ihrer wichtigen Stellung in der Nationalbewegung wurden die Bektashi von Diktator Enver Hoxha 1967 zusammen mit allen anderen Glaubensgemeinschaften verboten. Nach dem Sturz des Kommunismus endete auch der staatlich verordnete Atheismus, und auch die Bektashi konnten seit den frühen 1990er-Jahren ihren Glauben frei leben. Die Pilgerfahrt auf den Tomorr spielte bei dieser Wiederbelebung des Derwischordens eine bedeutende Rolle. Wer heute den Tomorr besucht, ist beeindruckt von der Lebendigkeit der Pilgerfahrt und der Majestät des Berges.

Erhaben und doch unbekannt

Doch wie alt ist diese Pilgerfahrt tatsächlich? So prachtvoll der Tomorr die südalbanische Landschaft beherrscht, so wenig ist vor dem Ende des 19. Jahrhunderts über ihn bekannt. In Reiseberichten wird er selten erwähnt, da die großen Straßen nicht an ihm vorbeiführten. In vielen Beschreibungen bildet er den Horizont, erhaben, aber fern. Der osmanische Weltenbummler Evliya Çelebi beschrieb ihn im 17. Jahrhundert; er wusste, dass Italiener den Tomorr bestiegen, um dort Heilkräuter zu sammeln. Doch bis an die Schwelle zur Gegenwart blieb der Tomorr der Lebensraum von Hirten, die je nach Situation auch zu Räubern werden konnten. Bei ihnen handelte es sich um orthodoxe Aromunen (Vlachen), die eine balkanromanische Sprache verwendeten und eine seminomadische Weidewirtschaft betrieben. Selbst gegen Ende des 19. Jahrhunderts wagten sich osmanische Beamte aus der Ebene kaum in diese Welt hinauf.

Die erste dokumentierte Besteigung führte 1892 der italienische Botaniker Antonio Baldacci (1867–1950) unter starker Polizeibedeckung durch. Weil dieselben Polizisten aber kurz zuvor bei einer Razzia gegen Räuber brutal gegen die Dörfer an den Hängen des Tomorr vorgegangen waren, bedeutete diese Eskorte für Baldacci nicht nur Schutz, sondern auch Gefahr. Überstürzt musste er den Abstieg antreten. Baldacci und die Gendarmen erhielten keine Gastfreundschaft und erbrachen die Tür einer Moschee, in deren Hof sie, die Waffen in der Hand, übernachteten. Den Mundvorrat stahlen sich aus Hühnerhöfen der Dörfler. Am nächsten Morgen verließen sie in aller Früh und heimlich den Berg.

Ganz anders trat der zweite Besteiger des Tomorr auf. Eqrem bej Vlora (1885–1964) stammte aus einer südalbanischen Adelsfamilie, die Großwesire stellte. Er selbst war am Theresianum in Wien erzogen worden, sprach und schrieb fließend Deutsch und viele andere Sprachen, war osmanischer Edelmann und österreichfreundlicher Aktivist der Nationalbewegung. Angst vor Räubern oder Respekt vor Gendarmen hatte er nicht, dafür Spott für den hasenfüßigen Baldacci, den er nicht zu Unrecht als Agenten des italienischen Imperialismus ansah. Vlora schrieb sein Buch "Aus Berat und vom Tomor" auf Deutsch für ein österreichisches Publikum, das balkaninteressant und bergaffin war. Gedruckt wurde es in einer Reihe des bosnisch-herzegowinischen Landesmuseums in Sarajevo, der Vorzeigeforschungseinrichtung der Monarchie auf dem Balkan. Vlora beschrieb nicht nur den Berg, sondern auch dessen Bewohner und Bewohnerinnen, die dem sprachunkundigen und nur an Pflanzen interessierten Baldacci weitgehend entgangen waren.

Ein Berg der Christen und Muslime

Der Tomorr hatte sich zwischen den 1890ern-Jahren und 1909, als Vlora den Gipfel bestieg, stark gewandelt. Die Aromunen hatten sich im Tal angesiedelt, der Berg war muslimischer geworden, eine Türbe (Grabmal) für Abbas Ali war angeblich 1880 dort errichtet worden. Vlora erwähnt aber auch, dass Bektashi wie Orthodoxe den Berg als Pilgerort ansahen, auf dem die Gottesmutter Maria neben Abbas Ali verehrt würde. Der Tomorr war also ein Ort von Aromunen und Albanern, von Christen und Muslimen der schiitischen Tradition.

Zu Beginn des 20. Jahrhunderts aber handelte es sich um eine eher bescheidene Pilgerfahrt. Während nur wenige Gläubige den Berg tatsächlich bestiegen, gelangte der Tomorr zu großer Berühmtheit bei den oftmals in der Diaspora lebenden Aktivisten der Nationalbewegung. Der orthodoxe Südalbaner Andon Zako Çajupi (1866–1930), der in der Schweiz und vor allem in Ägypten lebte, verfasste einen Gedichtband, dessen Leitpoem "Baba Tomorr" (Vater Tomorr) den Berg als Sinnbild einer nationalen Idee feierte, die über den Religionen stand: "Heute gibt es keine Albaner, der Türke und der Grieche haben uns geteilt. Der Pope und der Hoca, Kirche und Moschee betrügen uns." "Kirche Albaniens" und "Himmelsthron" sei der Berg.

Bergspitze
Die Bergspitze des Tomorr.
Foto: O.J. Schmitt

Erst seit dem Ende des Kommunismus gewann der Tomorr jene Bedeutung, die er heute hat: ein Ort einer Massenpilgerfahrt und nationales Symbol. Heute besuchen Baba Tomorr Gläubige, Touristen, Touristinnen, Neugierige und Wanderer sowie Wandererinnen. Albanien ist bei Österreichern und Österreicherinnen ein beliebtes Wanderziel geworden. Viele zieht es auch diesen Sommer in den Norden ins Valbonatal. Doch auch Vater Tomorr hat für Wandernde mit offenen Augen viel zu bieten. (Oliver Jens Schmitt, 14.7.2023)