Beschleuniger für Myonen
Der Myonenbeschleuniger am Fermilab in Batavia in Illinois.
via REUTERS/RYAN POSTEL/ FERMI N

Das Standardmodell der Elementarteilchenphysik ist neben Einsteins allgemeiner Relativitätstheorie die bislang genaueste wissenschaftliche Theorie. Es erklärt das Verhalten aller bekannten Teilchen und Kräfte und zeichnet ein detailliertes Bild des Mikrokosmos, das alle aus unserem Alltag bekannten Phänomene abdeckt. Doch diese außergewöhnliche Theorie, die auf miteinander gekoppelten Quantenfeldtheorien basiert, offenbart auf kosmischen Skalen mehrere Lücken in unserem Verständnis der Welt. Nach wie vor ist unklar, wie Dunkle Materie und Dunkle Energie in dieses Bild passen.

Um die Brücke vom Kleinsten zum Größten zu schlagen, ist es aber nötig, mit irdischen Laboren zu identifizieren, wie und wo das Standardmodell versagt. Genau das gelang nun offenbar am Fermilab im US-amerikanischen Illinois. Die magnetischen Eigenschaften eines kurzlebigen Elementarteilchens, des Myons, entsprechen nicht den theoretischen Erwartungen. Die Ergebnisse wurden nun zur Publikation im Fachjournal "Physical Review Letters" eingereicht.

Das Myon gehört zu den sogenannten Leptonen und ähnelt in seinen Eigenschaften dem Elektron. Es ist sehr selten, deutlich schwerer als sein bekannterer Verwandter und entsteht nur beim Auftreffen von kosmischer Strahlung auf die Atmosphäre der Erde oder in Teilchenbeschleunigern, um nach Sekundenbruchteilen wieder zu zerfallen. Für Teilchenexperimente ist es aber interessant: Der Beschleuniger am Fermilab, an dem die neuen Experimente durchgeführt wurden, ist speziell für die Vermessung von Myonen konzipiert.

Konkret konzentrierten sich die Messungen auf den sogenannten Landé-Faktor, mit dem Buchstaben "g" bezeichnet. Er bestimmt, wie schnell Elementarteilchen in Anwesenheit eines Magnetfeldes "torkeln", ein Effekt, den wir aus dem Alltag von Kreiseln kennen. Die Größe von g hängt nicht nur von den Eigenschaften des Myons selbst ab, sondern wird von allen anderen möglichen Elementarteilchen mitbestimmt. In unserem heutigen Bild des Mikrokosmos führt jedes Teilchen eine Art Wolke aus fremden Teilchen mit sich. Auch bislang unbekannte Teilchen würden sich auf diese Weise bemerkbar machen.

Abweichungen bestätigt

Das Standardmodell sagt den Wert für g präzise vorher. Doch bereits 2021 war man am Fermilab auf Abweichungen des realen Werts von der theoretischen Prognose aufmerksam geworden. Die Detektoren konzentrieren sich dabei auf Positronen, die beim Zerfall der Myonen entstehen und aus deren Eigenschaften sich auf die der Myonen rückschließen lässt. Inzwischen hat das Team die Genauigkeit des Experiments erhöht und die Menge an Myonen vervierfacht. Damit gelang nun die Bestätigung mit einer Verlässlichkeit von eins zu 3,5 Millionen, in der Wissenschaft als 5-Sigma-Standard bekannt. 2021 waren es noch 4,2 Sigma gewesen. Der Wert gibt die Irrtumswahrscheinlichkeit an und ist in der Teilchenphysik deutlich strenger gewählt als in anderen Wissenschaftsfeldern. "Die systematische Unsicherheit auf dieses Niveau zu bringen ist eine große Sache und etwas, das wir nicht erwartet haben so schnell zu erreichen", sagt Peter Winter, einer der Sprecher des Myonenexperiments.

Muon g-2 experiment returns with new precision measurement
In 2021, the Muon g-2 experiment at Fermilab created headlines around the world: it found strong evidence for physics beyond the Standard Model of elementary particles and forces. Now scientists working on the experiment have a new result based on more data. T
Fermilab

Es ist das zweite überraschende Ergebnis eines US-Labors im Gebiet der Teilchenphysik in den letzten Wochen. Anfang Juli berichtete ein Team von der Universität Boulder, Colorado, besonders genaue Messungen der Form des Elektrons, genauer gesagt, dessen Dipolmoments. Die außergewöhnlich runde Form legt nahe, dass bestimmte Teilchen, die man mit dem leistungsfähigsten Teilchenbeschleuniger der Welt, dem LHC am Cern, zu finden hoffte, in dessen Messbereich nicht existieren dürften.

Während diese Arbeit eine Bestätigung des Standardmodells darstellte, deuten die neuen Experimente auf eine Abweichung hin. Und wie schon in Colorado ist es ein eher kleines Experiment, im Umfang des Beschleunigerrings kaum größer als der medizinische Teilchenbeschleuniger Medaustron, der in Wiener Neustadt zur Behandlung von Krebs mittels Protonenstrahlung eingesetzt wird, allerdings mit starken supraleitenden Magnetspulen ausgestattet. Der unterirdische Ring des LHC hat im Vergleich dazu einen Umfang von 27 Kilometern. Der Beschleuniger am Fermilab hat eine lange Geschichte hinter sich, er stammt eigentlich aus einem Experiment am Brookhaven National Laboratory, das 2001 eingestellt wurde.

Ende 2022 hatte das Fermilab ebenfalls mit einem ungewöhnlichen Ergebnis aufwarten können, das eine Abweichung vom Standardmodell darstellt. Damals war es um das sogenannte W-Boson gegangen, dessen Masse höher ist, als sie es laut dem Standardmodell sein soll.

Bis 2025 sollen mit dem Myonenbeschleuniger weiter Daten gesammelt werden, bevor das finale Ergebnis veröffentlicht wird. Schon jetzt scheint aber klar, dass sich hier eine weitere Lücke des Standardmodells auftut, durch die sich ein Blick auf die unbekannte Natur dahinter werfen lässt. (Reinhard Kleindl, 13.8.2023)