In ihrem Gastbeitrag beleuchtet die Historikerin Svetlana Suveica das Identitätsdilemma der Einwohner Bessarabiens nach dem Ersten Weltkrieg und nach dem Zusammenbruch der imperialen Ordnung. Ein Thema, das angesichts der aktuelle Kriegssituation in Osteuropa erneut an Brisanz gewinnt.

"Sind Sie Moldawier oder Rumäne?" Diese Frage konnte man auf den Straßen von Chișinău, der Hauptstadt der Republik Moldau, nach deren Unabhängigkeit im Jahr 1991 oft hören. Neugierige wurden manchmal mit Antworten wie "beides" überrascht, was die ethnische und staatsbürgerliche Identifikation anbelangt.

Im Jahr 1918 nach dem Zusammenbruch des Russischen Reichs und dem Ende des Ersten Weltkriegs, als Bessarabien von einer südwestlichen Provinz des russischen Zarenreichs zur östlichen Provinz des Nationalstaats Rumänien wurde, standen die dortigen Bewohner vor ähnlichen Fragen. In seinen Memoiren erinnerte sich der ehemalige Staatsduma-Abgeordnete Wassili V. Schul'gin an ein Gespräch, das in Odessa bei der Hochzeit des französischen Militärkonsuls stattfand. Dieses fand zwischen dem bessarabische Adelige und Großgrundbesitzer Alexander N. Krupenskij und einer nicht namentlich genannten, charmanten rumänischen Dame statt:

"K: Russland hat Bessarabien von Rumänien genommen. Bessarabien hat nie zu Rumänien gehört. Russland erhielt es von den Türken.

D: Aber Sie, Herr Krupenskij, Sie waren einmal Rumäne.

K: Die Krupenskijs waren niemals Rumänen.

D: Wer waren sie dann?

K: Türken, Madame."

Schwarz-Weiß Porträt von Alexander N. Krupenskij
Alexander N. Krupenskij (1861–1939).
Agenția Națională a Arhivelor (ANA) Chișinău, Fototeca c.a. 26 6238

Warum lehnte Alexander N. Krupenskij im vollen Bewusstsein seiner rumänisch-polnischen Abstammung jede Verbindung zu Rumänien ab? Wie identifizierten sich überhaupt die Bewohner Bessarabiens vor hundert Jahren und welche Faktoren beeinflussten ihre Entscheidung?

Bessarabien, die "Krupenskaja Gubernija"

Nach mehrjährigem Krieg gegen die Osmanen annektierte das Russische Reich im Jahr 1812 den östlichen Teil des unter osmanischer Oberhoheit stehenden Fürstentums Moldau. Der Fluss Pruth wurde zur Staatsgrenze und die Ländereien der Familie Krupenskij fanden sich aufgeteilt zwischen dem deutlich verkleinerten Fürstentum und der nunmehr Bessarabien genannten russischen Provinz. Alexanders Vater entschied sich, in Bessarabien zu bleiben und dem Zarenhof seine Treue zu erweisen. Er schickte seine Kinder zum Studium an die Universitäten Odessa und Sankt Petersburg. Alexanders Brüder Vasilij und Anatolij wurden Diplomaten, während Alexander selbst zum Marschall, also obersten ständischen Vertreter des bessarabischen Adels, ernannt wurde. Die Familie Krupenskij zählte etwa fünfzig Mitglieder, die in verschiedenen staatlichen Institutionen und Bezirksgerichten tätig waren, was dazu führte, dass Bessarabien auch als "Krupenskaja Gubernija", also das Gubernium der Krupenskiis, bekannt wurde.

Straßenparade, Schwarz-Weiß Foto, Landesflaggen und Soldaten
Besuch von Zar Nikolai II. in Chișinău anlässlich der Enthüllung des Denkmals von Zar Alexander I. (Chișinău, 3. Juni 1914).
ANA, Fototeca, c.a. 618.

Das Imperium verschwindet

Nach dem Zusammenbruch des Russischen Kaiserreichs – durch die zwei Revolutionen von 1905 und 1917 sowie die russische Niederlage gegenüber den Mittelmächten – stellte sich die entscheidende Frage nach der Zukunft der Region und insbesondere der Familie Krupenskij. Alexander N. Krupenskij gehörte einer Generation an, die im Russischen Reich geboren und ausgebildet worden war, sich aber nun von ihm entfremdet fühlte. Mit der Ausrufung der autonomen und später unabhängigen Ukraine im Jahr 1917 wurde Bessarabien von Russland und seinem politischen Zentrum abgeschnitten und baute eigene Institutionen auf. Die Zeit der Autonomie war jedoch nur von kurzer Dauer. Aufgrund der bolschewistischen Bedrohung entschied das regionale Parlament ("Sfatul Țării") im April 1918 über das Schicksal Landes zugunsten der Vereinigung mit Rumänien.

Karte Bessarabiens
Karte Bessarabiens.
Ing.-Büro für Kartographie J. Zwick

Die politische Zäsur stürzte die ehemalige kaiserliche Elite in einen Zustand der Unsicherheit, der neben dem Verlust von sozialem Status, Sicherheit und Wohlstand auch die Möglichkeit zur Transformation bot. Während einige Mitglieder der Elite hofften, ihren Reichtum zu bewahren und ihre Loyalität gegenüber dem rumänischen König erwiesen, konnte Alexander N. Krupenskij den Verlust nicht akzeptieren und nutzte die Gelegenheit, im Exil offen gegen die Vereinigung Bessarabiens mit Rumänien und für die Rückkehr der Region unter den Schutz des wiederhergestellten "Großrusslands" zu kämpfen. Eine dritte Gruppe spielte ein doppeltes Spiel, indem sie die Rückgabe Bessarabiens an Russland unterstützte, während sie vorgab, dem rumänischen Regime zu dienen.

Teil Rumäniens oder Rückkehr nach Russland?

In meinem Buch "Post-imperial Encounters" verfolge ich die Lebenswege bessarabischer Emigranten über Grenzen und Kontinente hinweg, die sie in Städte wie Paris, Genf, Berlin, Rom, Prag und bis nach Nord- und Südamerika führten. In der Emigration verfolgte Alexander N. Krupenskij seine politische Agenda. Als im Jänner 1919 in Paris die Friedenkonferenz begann, gründete er in Odessa die "Bessarabische Delegation", mit dem Ziel, die internationale Anerkennung Bessarabiens als Teil Rumäniens zu verhindern. In Paris arbeiteten vier bessarabische "Delegierte" eng mit den russischen "weißen" (das heißt antirevolutionären) Emigranten zusammen, um das breitere europäische Publikum davon zu überzeugen, dass die Bevölkerung Bessarabiens sich keine Zukunft innerhalb Rumäniens vorstellen könne und dass das Selbstbestimmungsrecht der Einwohner respektiert werden müsse. Letztendlich konnten Krupenskij und seine Unterstützer ihr politisches Ziel nicht erreichen, da der Vertrag von Paris im Jahr 1920 Rumäniens Anspruch auf die Region bestätigte.

Dennoch blieb der monarchische Restaurationsplan auf der Agenda der Bessarabier in der Emigration. So pries die Bessarabische Gesellschaft der Stadt Ada (heute Vojvodina, Serbien) Krupenskij für seinen entschlossenen Kampf zur Wiederherstellung der russischen Monarchie. Die dortigen Emigranten versicherten ihm, dass sie ihre Kinder im Geiste der "Liebe zum Vaterland und der … Verachtung gegenüber allen Fremden unter uns und gegenüber den Ausländern überhaupt" erzogen (siehe Foto). Anstatt sich als Bessarabier oder Moldawier zu identifizieren, blieben sie also treue russische (kaiserliche) Untertanen.

Scan des Briefs
Handschriftlicher Brief an Krupenskij.
Ada 13.11.1921, Hoover Institution Archives, Alexander N. Krupenskii papers, box I, folder 1 General.

1918 und heute

Im Gegensatz zur benachbarten Ukraine blieb Bessarabien vom vorrückenden Bolschewismus verschont. Dennoch waren gerade die Bewohner, die den ukrainischen Flüchtlingen während des russischen Bürgerkriegs Hilfe anboten, von der rumänischen Regierung desillusioniert und sehnten sich nach friedlichen Zeiten in "Großrussland" zurück. Rumänien trug, obwohl es sich im Kampf gegen die bolschewistische Bedrohung stark engagierte, wenig zur Verbesserung der wirtschaftlichen und sozialen Bedingungen in der östlichen Grenzregion bei. Die großen nichtrumänischsprachigen Minderheiten (Russen, Juden, Gagausen) wurden der mangelnden nationalen Loyalität beschuldigt, was Manipulationen begünstigte und ihre Integration in den neuen Staat erschwerte. Schon in den 1930er-Jahren waren Porträts der Zaren wieder in Bauernhäusern zu finden. Das Verschwinden des Imperiums war paradoxerweise am imperialen Rand noch spürbarer als im ehemaligen politischen Zentrum.

Die aktuelle Kriegssituation in Osteuropa lässt die Identitätsfrage der Moldauer wieder zu Tage treten. Nach dem russischen Angriff auf die Ukraine im Februar 2022 versuchen verschiedene politische Akteure, die Einstellungen und Loyalitäten der Bewohner entweder in Richtung von Moskau machtvoll propagierten "Russischen Welt" ("Russkii mir") oder in Richtung des demokratischen Europa zu lenken. Für die Moldauer, die im letzten Jahrhundert mehrere gescheiterte Nationsbildungs-Prozesse erlebt haben, ist die Ost- oder Westausrichtung erneut entscheidend für die Frage, wer sie sind und wo sie hingehören. Ein Déjà-vu? (Svetlana Suveica, 12.10.2023)