Interview Bürgermeister Michael Ludwig
Stadtchef Michael Ludwig meint, dass es auch eine Herausforderung für Lehrkräfte sei, Schülerinnen und Schüler mit Beschreibungen statt Ziffernnoten zu bewerten. "Aber der Vorteil ist, dass man Stärken von Schülern besser wahrnehmen kann und sich nicht auf die Defizite konzentriert."
Foto: Heribert Corn

Die Wiener SPÖ hat mit der Forderung nach einer Abschaffung der Matura in ihrer jetzigen Form sowie einem Aus für Schulnoten für Aufregung gesorgt. Bürgermeister Michael Ludwig ist das recht: Es gehöre mehr über Bildung diskutiert, befindet er. Ein Foul am pinken Koalitionspartner sei das nicht.

STANDARD: Die Delegierten der Wiener SPÖ bei der "Wiener Konferenz" beschlossen vor kurzem einen Antrag, der die Abschaffung der Matura vorsieht. Was stellen Sie sich stattdessen vor?

Ludwig: Wichtig ist, dass in Österreich über Bildung gesprochen wird. Es muss Veränderungen geben, um Schülerinnen und Schüler auf die Herausforderungen in der Wirtschaft, an den Unis und im Alltagsleben vorzubereiten. Wir glauben, dass die punktuelle Abfrage von Wissen, so wie es bisher gemacht wird, nicht das geeignete Instrument ist. Schülerinnen und Schüler sollen früh vernetztes Denken entwickeln können.

STANDARD: Soll die vorwissenschaftliche Arbeit ausgebaut werden?

Ludwig: Das geht in die richtige Richtung. Es gibt Schulversuche in Wien, wo sich Schülerinnen und Schüler Wissenscluster aussuchen und spezielles Wissen aneignen, welches dann auch abgeprüft wird. Es macht Sinn, diese Schulversuche auszubauen. Die Reaktionen von ÖVP und FPÖ, die jede Diskussion über eine Modernisierung des Bildungssystems ablehnen, war sehr voraussehend. Die Matura ist aber nicht mehr wie früher der logische Zugang zu allen Hochschulen. Viele haben zusätzlich eigene Aufnahmeprüfungen.

STANDARD: In einem weiteren Antrag wurde die Abschaffung der Noten in der Pflichtschule gefordert. Wie wollen Sie das umsetzen?

Ludwig: Es gab ja schon Versuche, die Schulnoten in den Volksschulen abzuschaffen. Es ist eine Herausforderung für Lehrkräfte, stattdessen eine Beschreibung abzugeben. Aber der Vorteil ist, dass man Stärken von Schülern besser wahrnehmen kann und sich nicht auf die Defizite konzentriert. Ich würde meinen, das kann man ohne Noten besser darstellen. Unbestritten für mich ist, dass damit auch Leistung weiterhin eingefordert wird.

STANDARD: Die Bundes-SPÖ trägt Ihr Ansinnen bezüglich Matura zwar mit. Es gebe aber derzeit andere Prioritäten, heißt es. Wie finden Sie das?

Ludwig: Wir sind im besten Einvernehmen mit der Bundespartei. Reformen im österreichischen Schul- und Bildungssystem sind immer von Wien ausgegangen. Das wird auch in Zukunft so sein. Im österreichischen Schulsystem gibt es Reformbedarf im Vergleich mit anderen Ländern, mit denen wir uns messen sollten.

STANDARD: Ist Ihr Vorstoß auch als Vorwurf gegen Ihren Koalitionspartner Neos zu sehen, der ja in Wien für Bildung zuständig ist?

Ludwig: Nein, überhaupt nicht. Wir haben eine sehr gute Zusammenarbeit und tragen alle Entscheidungen gemeinsam mit. Dessen ungeachtet ist die Sozialdemokratie eine eigenständige Partei. Wir haben schulpolitisch in den letzten Jahren in Wien vieles erreicht: die Gratisganztagsschule, zuletzt das Gratismittagessen in den Pflichtschulen. Aber wir glauben, für die kommenden Herausforderungen werden Innovationen im Bildungssystem notwendig sein.

Die Matura sei nicht mehr wie früher der logische Zugang zu allen Hochschulen, befindet Ludwig. Viele hätten zusätzlich eigene Aufnahmeprüfungen.
Foto: Heribert Corn

STANDARD: Vizebürgermeister Christoph Wiederkehr (Neos) hat am Freitag zum Thema Integration und Migration gesagt: "Österreich hat ein Problem." Teilen Sie diesen Befund?

Ludwig: Migration ist immer eine Herausforderung. Ich halte es für sinnvoll, dass man sich damit beschäftigt. Ungeachtet dessen gilt aber festzuhalten: Es ist auch vieles gelungen. Denn es leben hunderttausende Menschen in unserem Land, die wesentlich dazu beitragen, dass die Wirtschaft und die Gesellschaft funktionieren.

STANDARD: Junge Menschen gehen derzeit in Wien auf die Straße, demonstrieren gegen den Krieg im Nahen Osten. Dabei wurden auch antisemitische Parolen gebrüllt, es kommt zu Schmierereien, die israelische Fahne wurde vom Tempel gerissen, jüdische Mitbürger fühlen sich nicht mehr sicher. Muss man da nicht selbstkritisch sagen: Da ist uns etwas entglitten?

Ludwig: Es ist kein Phänomen, das sich ausschließlich aus dem Nahostkonflikt ergibt. Wenn man sich den Wahrnehmungsbericht der Israelitischen Kultusgemeinde anschaut, dann ist ein Konfliktherd natürlich der Nahe Osten. Ein großer Teil hat auch rechtsextremen Hintergrund. Wir müssen generell gegen jede Form von Rassismus auftreten. Ich habe es für sehr gut empfunden, dass auch Ümit Vural, der Präsident der islamischen Glaubensgemeinschaft, sich mehrfach gegen jede Form von Antisemitismus ausgesprochen hat. Wir haben in Wien ein anderes Klima als in vielen Großstädten in Europa. Wir stehen im engen Dialog mit vielen Einrichtungen, Vereinen, Institutionen. Wir versuchen, frühzeitig einzuwirken, wenn wir den Eindruck haben, dass hier etwas falsch läuft.

STANDARD: Herr Vural hat aber auch schon gesagt, dass es unter muslimischen Jugendlichen jede Menge Vorurteile gegen Jüdinnen und Juden gebe. Muss man hier noch mehr machen?

Ludwig: Man kann nie genug machen. Was demokratische Spielregeln betrifft, wird man immer Akzente setzen müssen.

STANDARD: In Vorarlberg sollen Asylwerber per Unterschrift unter einem Wertekodex zu gemeinnütziger Arbeit verpflichtet werden und einen Deutschkurs belegen. Ihr Parteikollege, Burgenlands Landeshauptmann Hans Peter Doskozil, hält die Diskussion über den Wertekodex für "angebracht". Unterstützen Sie das?

Ludwig: Bei Asylwerbern ist die Voraussetzung, dass eine entsprechende Anzahl an Deutschkursen auch angeboten wird. Das Bekenntnis zur Demokratie und zur Republik Österreich wird natürlich verlangt.

Stadtchef Ludwig zum Thema Integration: "Man kann nie genug machen. Was demokratische Spielregeln betrifft, wird man immer Akzente setzen müssen."
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STANDARD: Zum Thema Gesundheit: In den Wiener Spitälern werden Feiertags- und Nachtdienstzulagen erhöht, Ausbildungen werden verstärkt. Wird das die angespannte Personalsituation lösen?

Ludwig: Das ist ein Mosaikstein unter mehreren. Wir haben auch die Ausbildungsplätze für Pflegeberufe mehr als verdoppelt. Aufgrund der demografischen Entwicklungen erfolgt in allen Berufsfeldern eine starke Nachfrage. Wir haben berechnet, dass wir bis 2030 allein in der Stadt Wien 21.000 Personen mehr brauchen, weil so viele in den nächsten Jahren in Pension gehen.

STANDARD: Die Wiener Ärztekammer hat auch 30 Prozent mehr Gehalt gefordert. Das ist in diesem Paket kein Thema.

Ludwig: Wir haben Verbesserungen in allen Berufsgruppen durchgesetzt. Da wird es je nach Gruppe und Überstundenbereitschaft 250 bis über 900 Euro mehr pro Monat geben. Dazu kommt die Gehaltserhöhung, die mit den Gewerkschaften ausverhandelt worden ist.

STANDARD: Bei der Umwidmung einer Kleingartensiedlung in Bauland haben auch mehrere SPÖ-Politiker profitiert. Bezirksvorsteher Ernst Nevrivy zahlte nur rund ein Jahr vor der Umwidmung einen günstigeren Preis. Wie beurteilen Sie den Vorgang?

Ludwig: Wenn Sie das so formulieren, würde das voraussetzen, dass er Einfluss auf die Umwidmung gehabt hat. Das ist nachweislich bis jetzt nicht behauptet worden.

STANDARD: Wann wird das Ergebnis der Prüfung der Magistratsdirektion über die Vorgänge vorliegen?

Ludwig: Darauf nehme ich keinen Einfluss. Es prüfen ja mehrere Institutionen.

Ludwig zur anstehenden Pensionierungswelle bei der Babyboomer-Generation: "Wir haben berechnet, dass wir bis 2030 allein in der Stadt Wien 21.000 Personen mehr brauchen, weil so viele in den nächsten Jahren in Pension gehen."
Foto: Heribert Corn

STANDARD: Über den Chef der Bundes-SPÖ werden künftig die Mitglieder direkt entscheiden, hier hat sich der Parteivorsitzende Andreas Babler durchgesetzt. Rechnen Sie – trotz hoher Hürden für eine Kandidatur – mit weiteren Kampfabstimmungen in der SPÖ?

Ludwig: Das weiß ich nicht. Prinzipiell ist es kein Geheimnis, dass ich glaube, dass die Form der repräsentativen Demokratie eine sinnvolle ist. Damit wird die Gesamtorganisation gestärkt und nicht eine Person an der Spitze. Das ist jetzt in der Bundespartei anders entschieden – und wir werden damit leben.

STANDARD: Haben Sie sich deshalb aus dem Vorstand der Bundes-SPÖ zurückgezogen?

Ludwig: Das hat damit überhaupt nichts zu tun. Als Landesparteivorsitzender habe ich immer die Möglichkeit, mich einzubringen. Das werde ich auch wahrnehmen, wenn es notwendig ist. Es ist gut, dass eine Bundespartei eine regionale Breite hat. Ich befürworte es, dass jetzt zum Teil auch junge Landesparteivorsitzende solche Funktionen übernehmen.

STANDARD: Die Bundes-SPÖ richtet sich gerade links aus. Wird ihr das Mehrheiten einbringen?

Ludwig: Ich hoffe. Wir werden die Bundespartei gerne dabei unterstützen. (Petra Stuiber, David Krutzler, 25.11.2023)