Der Balkan ist ganz wesentlich von Bergen geprägt. Ein Blick auf die Landkarte verdeutlicht dies eindrucksvoll. Gebirge haben die historische Entwicklung der Region in vielfältiger Weise beeinflusst. So konnte sich etwa ob des schwer zu durchdringenden Terrains innerhalb der Region niemals ein politisches Zentrum etablieren, das den gesamten Balkan über längere Zeit hinweg dominierte. Auch auf die ökonomische Entwicklung hatten die Gebirge maßgeblichen Einfluss. Das zerklüftete und mitunter segregierte Terrain war einer wirtschaftlichen Integration nicht gerade förderlich. Auch waren die meisten Flüsse in der Region nicht für die Schifffahrt geeignet. Die Donau bildete zwar eine Ausnahme, dennoch wurde sie vor dem 19. Jahrhundert kaum für Handelszwecke genutzt. Die wichtigsten Handelswege, auf denen Esel, Maultiere, Pferde und Kamele zum Einsatz kamen, verliefen auf Wegen und Saumpfaden. Bedeutende Handelsorte des zentralen Balkans wie Voskopoje/Moskopolis, Konitsa, Melnik, Kruševo oder Metsovo befanden sich in höheren, gut geschützten Lagen. Noch im 19. Jahrhundert dauerte eine Reise von Mazedonien nach Wien circa 50 Tage.

Topografische Karte des Balkans
Topografische Karte des Balkans.
Captain Blood - Eigenes Werk, CC BY-SA 3.0, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=675493

Die Ökologie der Berge

Das gebirgige Terrain verlangte insbesondere in vorindustrieller Zeit den Menschen enorme Anpassungsleistungen ab. Die Höhenlage hat entscheidenden Einfluss auf die landwirtschaftliche Tätigkeit. Dabei spielen Faktoren wie die Steilheit und Schroffheit des Gebirges sowie die Lage von Hängen, aber auch inwiefern diese Winden ausgesetzt sind, im Schatten liegen oder von der Sonne beschienen werden, eine entscheidende Rolle. Hinzu kommt, dass in vielen Bergregionen des Balkans produktives Land nur eingeschränkt zur Verfügung steht. Die rumänischen Karpaten, an deren nördlichen Hängen Weizen, Roggen, Hafer und Kartoffeln, an den Südhängen Mais, Zuckerrüben, Weintrauben und Tabak gedeihen, eignen sich noch am besten für Landwirtschaft. Viel karger sind hingegen die Gebirge im Westen der Halbinsel. Entlang der Adriaküste dominiert das Dinarische Gebirge, das meerseitig fast vollständig entwaldet und für Landwirtschaft kaum geeignet ist; nur landeinwärts gibt der Karst bebaubares Land in bescheidenem Ausmaß frei.

Kennzeichnend für diese und andere weiter süd- und ostwärts gelegene Gebirgsregionen war, dass die Menschen ihr Überleben mit den lokal vorgefundenen Ressourcen kaum bewältigen konnten. Aus diesem Grund waren unterschiedliche Formen der Weidewirtschaft weit verbreitet, die entweder in Kombination mit Ackerbau (Agropastoralismus) oder selbstständig (Transhumanz, Seminomadismus) betrieben wurden. Dadurch konnte nicht kultivierbares Land für produktive Tätigkeiten nutzbar gemacht werden. Die "Hirtenbauern" waren in zirkuläre Wirtschaftskreisläufe eingebunden. Die regelmäßige Rückkehr der Hirten an den Herkunftsort, wo man über Nutzungsrechte von Land, Weiden, Wasser und Wald verfügte, war Bestandteil dieses Wirtschaftssystems.

Schwarz-Weiß-Foto, Hirten mit Schafen
Aufbruch zur Weidewanderung im südalbanischen Kurveleshhochland.
Robert Pichler 1998

Die Ausbreitung der Wanderarbeit

Neben der agropastoralen Landwirtschaft und der Fernweidewirtschaft spielte die Wanderarbeit für die Menschen in den Gebirgen eine wichtige Rolle. Formen der saisonalen oder temporären Wanderarbeit lassen sich bereits im 15. und 16. Jahrhundert nachweisen. Im 18. Jahrhundert kam es infolge eines zunehmenden Bevölkerungswachstums zu einer Ausweitung der Wanderarbeit.

In Serbien und im slawischsprachigen Mazedonien nannte man die Wanderarbeit pečalba, ein Begriff, der auf die Armut und das Leid der Migration hinweist (pečal, Kummer, Leid; pečalno armselig). Unter der muslimischen Bevölkerung war der Begriff gurbetčistvo verbreitet, eine türkisch-slawische Amalgamierung, die das türkische Wort gurbet (Fremde) beinhaltet. Im Albanischen kam und kommt immer noch manchmal das Wort kurbet zur Anwendung, das die Arbeit in der Fremde, in jüngerer Zeit die vorübergehende Arbeit im Ausland bezeichnet.

Die Arbeit in der Fremde war mit vielen Unwägbarkeiten verbunden; zwar reisten Wanderarbeiter bevorzugt in Gruppen, die sich wegekundigen Führern anvertrauten, und oft wurden die Arbeitseinsätze bereits im Vorfeld organisiert, insgesamt waren diese Unternehmen aber mit Unsicherheiten verbunden, wie dem Risiko von Überfällen oder der Gefahr von Krankheiten und Epidemien. Hinzu kamen die schwierigen Arbeitsbedingungen, die primitiven Unterkünfte und der Mangel an Verpflegung. Deshalb ging man auch bevorzugt mit Leuten aus dem Dorf, mit Verwandten oder Männern aus der Nachbarschaft, auf Wanderarbeit. Um den Schmerz der Trennung und die Sorge vor dem, was kommen würde, zu lindern, entwickelten sich Rituale des Abschiednehmens. Ein Mitglied einer westmazedonischen pečalba-Familie erinnert sich:

"Wenn der Pečalbar dann sein Zuhause verlässt, wird er von älteren Männern und Frauen bis zum Ende des Dorfes begleitet. Jeder, der ihn begleitet, macht Späße, damit der Pečalbar nicht traurig ist… An dem Ort, von dem die Kiradžije (Fuhrleute) dann zu den verschiedenen Routen aufgebrochen sind …stand früher und steht auch heute noch ein Birnbaum. Dies ist der Ort der Trennung der Pečalbari von ihren Vätern, Müttern, Schwestern, Frauen und Verwandten und der Ort des Weinens und der Tränen. Deswegen heißt dieser Ort auch 'Birnbaum der Tränen'."1

Berufliche Differenzierung und Rückkehrorientierung der Wanderarbeiter

Reisende, die sich im frühen 19. Jahrhundert in der Region aufhielten, beobachteten, dass Dörfer und manchmal ganze Gebiete sich auf gewisse Berufe spezialisiert hatten. So schreibt etwa der österreichisch-ungarische Diplomat Johann Georg von Hahn, der von Ioannina und Athen aus Reisen in der Region unternahm, dass sich in der südwestalbanischen Lunxhëria ganze Dörfer auf den Wasserleitungsbau in Istanbul spezialisiert hatten. Aus benachbarten Dörfern kamen Gärtner, die in großen Gärtnereibetrieben in Makedonien und Thessalien anheuerten und später eigene Betriebe in Monastir (Bitola) und Ioannina gründeten.

Wieder andere Dörfer waren im Webereigewerbe und in der Fleischerei tätig. In der Himara, einer abgeschiedenen Küstenregion im Südwesten Albaniens, verdingten sich Männer bevorzugt als Söldner in den Berufsarmeen italienischer Stadtstaaten (Venedig, Genua). Anfang des 19. Jahrhunderts, als das Söldnertum an Attraktivität verlor, gingen viele von ihnen als Wanderarbeiter nach Übersee. Die Lieder über die großartigen Heldentaten vergangener Zeiten wurden forthin von den traurigen Gesängen der Emigration abgelöst. In der Region Dibra/Dibër, im heutigen Grenzgebiet zwischen Nordmazedonien und Albanien gelegen, waren mehr als die Hälfte der Männer im arbeitsfähigen Alter als Wanderarbeiter beschäftigt. Von dort kamen viele Bauarbeiter, die in Gruppen (sogenannte Gangs) weite Strecken zurücklegten und am Aufbau der städtischen Infrastruktur auf dem Balkan und darüber hinaus entscheidenden Anteil hatten. Das Geld und das Wissen, das die Wanderarbeiter nach Hause mitbrachten, waren wichtige Impulse für die wirtschaftliche Entwicklung der peripheren Bergregionen.

Das weitverzweigte Netz der Wanderarbeiter und Händler von Kruševo

Neben den zahlreichen Dörfern, die von Wanderarbeit lebten, gab es auch herausragende Beispiele urbaner Entwicklung, die auf rückkehrorientierter, mobiler Ökonomie gründeten. Ein besonders eindrucksvolles Beispiel war die Stadt Kruševo im heutigen Nordmazedoniens.

Postkarte, Schwarz-Weiß
Postkarte aus Kruševo aus den 1920ern.
Postcard of Kruševo from 1920's. (https://commons.wikimedia.org/wiki/Category:Historical_images_of_Kru%C5%A1evo#/media/File:Krusevo,_razglednica.jpg)

Der auf 1.350 Meter Seehöhe gelegene Ort entwickelte sich im Laufe des 19. Jahrhunderts von einem dörflichen Konglomerat zu einer städtischen Siedlung mit über 7.000 Einwohnern. Über 70 Prozent der Männer im arbeitsfähigen Alter waren als Wanderarbeiter, Unternehmer oder Händler tätig. Insgesamt ließen sich 35 unterschiedliche Berufe nachweisen, darunter besonders viele Tischler, Bauarbeiter, Schneider, Goldschmiede und Hirten. Darüber hinaus gab es Eisenschmiede, Zinngießer, Transportunternehmer und Fleischer, um nur ein paar besonders verbreitete Branchen zu nennen. Verblüffend war auch die Vielzahl an Destinationen: 1846 arbeiteten die Männer von Kruševo an 75 unterschiedlichen Orten, die meisten von ihnen auf dem Balkan, nicht wenige aber auch noch weiter entfernt in Istanbul, in Smyrna/Izmir, in Ägypten, Damaskus, auf den ägäischen Inseln sowie in Wien. Die folgende Karte vermittelt eindrucksvoll das Netzwerk an Destinationen und Beziehungen, das sich von Kruševo aus erstreckte.

Karte
Destinationen von Arbeitsmigranten aus Kruševo, 1846.
Akın Sefer, Aysel Yıldız, Mustafa Erdem Kabadayı, Labor Migration from Kruševo: Mobility, Ottoman Transformation, and the Balkan Highlands in the 19th Century. International Journal of Middle East Studies (2021), 80 (73–87).

Destinationen von Arbeitsmigranten aus Kruševo, 1846. Quelle: Akın Sefer, Aysel Yıldız, Mustafa Erdem Kabadayı, Labor Migration from Kruševo: Mobility, Ottoman Transformation, and the Balkan Highlands in the 19th Century. International Journal of Middle East Studies (2021), 80 (73–87).

Zumeist blieben die Wanderarbeiter aus Kruševo zwischen eineinhalb und vier Jahren fern vom Heimatort, nicht wenige noch länger. Wie häufig sie für bestimmte Anlässe wie Hochzeiten und andere Feierlichkeiten zurückkehrten, lässt sich aus den Quellen nicht eruieren. Sicher ist jedoch, dass Familiengründungen zumeist in Kruševo stattfanden und dass die Kinder aus diesen Beziehungen dort geboren wurden. Nachdem Eheschließung in diesem kulturellen Milieu universal war, kann man davon ausgehen, dass die Beharrungskräfte lange Zeit deutlich ausgeprägter waren als die Sogkräfte der Emigration.

Durch die Rücküberweisungen der Wanderarbeiter kam es zu einer bemerkenswerten Kapitalakkumulation, die sich unter anderem an der Ausdehnung des Ortes und seiner Architektur widerspiegelte. Der Bau von prächtigen Kirchen, Schulen, ansehnlichen Steinhäusern und eines Marktplatzes verliehen dem Ort im Laufe der Zeit ein städtisches Profil.

Die dichte Vernetzung der Leute von Kruševo mit urbanen Zentren in Ost und West hat auch entscheidend zur Verbreitung neuer politischer Ideen beigetragen. Es war deshalb auch kein Zufall, dass Kruševo um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert zu einem Zentrum der bulgarisch-mazedonischen Autonomiebewegung wurde. Die nationalen Aufstände und die Kämpfe, die sich Anfang des 20. Jahrhunderts um das Erbe des Osmanischen Reichs in der Region Makedonien zutrugen, waren der Beginn vom Ende der wirtschaftlichen Prosperität von Kruševo. Die nationalstaatlichen Grenzen, die nach dem Zerfall des Osmanischen Reichs gezogen wurden, haben auch die ökonomischen Rahmenbedingungen grundlegend verändert; die vormals weitverzweigten Handelsrouten wurden vielfach gekappt, und die Zentren der nationalen Ökonomien verlagerten sich in die Ebenen. Seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert intensivierte sich darüber hinaus die Amerikawanderung. Viele Menschen aus Südosteuropa versuchten ihr Glück in Übersee. Aber selbst für Amerikamigrant:innen sollte das Thema der Rückkehr weiterhin eine wichtige Rolle spielen, wie der nächste Beitrag zeigen wird. (Robert Pichler, 12.1.2024)