Zog seine Kandidatur bei der EU-Wahl zurück: EU-Ratspräsident Charles Michel.
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Charles Michel fühlt sich ungerecht angegriffen und persönlich verfolgt. Das lässt der Ständige Präsident des Europäischen Rates verbreiten. Dabei ist er selbst schuld an der Kritik an ihm. Der höchstrangige Politiker Europas hat sich ohne Not selbst als politisches Fliegengewicht enttarnt.

Vor nicht einmal drei Wochen hat er angekündigt, im Juli vorzeitig zurückzutreten, ein halbes Jahr vor Ende der Amtszeit. Er wollte sich bei der EU-Wahl im Juni ein Mandat im Parlament sichern. Das war keine gute Idee. In Zeiten von bedrohlichen Kriegen und Krisen sind verlässliche Führung und Stabilität nötig. Als Michel seinem Aviso hinzufügte, dass ausgerechnet Viktor Orbán ihn notfalls vertreten könnte, war Schluss mit lustig. Es hagelte Kritik, Spott und Hohn.

Wegen der "extremen Reaktionen" machte der Präsident nun – erneut völlig überraschend – einen Rückzieher: keine Kandidatur, kein Mandat in Straßburg, kein Rücktritt. Jetzt nimmt ihn erst recht niemand mehr ernst.

Michels Aussetzer ist nur ein Symptom für Europas Führungsschwäche. Wo sind die Spitzenpolitiker, die in Sonntagsreden so gerne das Einmalige am EU-Projekt betonen? Wo die Initiativen der Regierungen zur Stärkung Europas? Die einstigen "Motoren" – Deutschland und Frankreich, Emmanuel Macron und Olaf Scholz – scheinen mit innenpolitischen Problemen ausgelastet. Rundum gehen die rechten EU-Gegner in die Offensive. Und die Proeuropäer? Sie sind still und defensiv. (Thomas Mayer, 29.1.2024)