Charles Michel galt in vier Jahren seiner bisherigen Amtszeit nie als politische Leuchte. Seine Vorsitzführung als Ständiger Präsident des Europäischen Rates nervt nicht wenige der 27 Staats- und Regierungschefs. Inhaltlich eher unstrukturiert, ohne eigenes Profil, neigt er in Sitzungen zur Ausschweifung in endlosen Tagesordnungen: zu Ineffizienz.

EU-Ratspräsident Charles Michel
Will für die liberale belgische Partei Mouvement Réformateur bei der Europawahl antreten: EU-Ratspräsident Charles Michel.
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Dazu kam zuletzt der Vorwurf übertriebener Eitelkeit. Dem früheren belgischen Premierminister gehe es oft mehr darum, sich selbst in Szene zu setzen, auf die eigene Karriere zu achten als auf die gemeinsame europäische Sache.

Nach dem Massaker der Hamas in Israel am 7. Oktober brachte er es nicht fertig, die Terrororganisation ohne Wenn und Aber zu verurteilen. Er schwurbelte herum.

Unvergessen blieb das "Sofagate" in Ankara, ein Empfang für Michel und Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen beim türkischen Staatspräsidenten Recep Tayyip Erdoğan. Dieser stellte den europäischen Gästen nur einen Fauteuil neben seinem hin. Michel nahm ohne mit der Wimper zu zucken Platz. Von der Leyen musste am Katzentisch sitzen.

Solche Episoden von politischer Ungeschicklichkeit und Brüskierung des "Chefs der Chefs" werden jetzt im Räderwerk von EU und Regierungszentralen der Mitgliedsstaaten genüsslich aufgewärmt. Denn was Michel sich mit der Ankündigung seines vorzeitigen Rücktritts im Juli leistete, übertrifft alles an mangelndem Instinkt, was er bisher demonstrierte.

Die Europäische Union steht Anfang 2024 vor einem der schwierigsten und wohl gefährlichsten Jahre seit ihrer Gründung. Zwei Kriege, in der Ukraine und in Nahost, drohen zu eskalieren, die Wirtschaftslage ist EU-weit nicht gut. In vielen EU-Staaten gibt es fünf Monate vor der Europawahl starke politische Polarisierung. Ein radikaler Rechtsruck droht.

In einer solchen Situation käme es darauf an, dass die wichtigsten EU-Funktionsträger Verlässlichkeit und Disziplin zeigen, den Menschen Sicherheit und Stabilität vermitteln. Von der Leyen und auch Christine Lagarde in der Europäischen Zentralbank tun das, bemühen sich unter globalem Druck.

Michel hingegen hat nichts Besseres zu tun, als völlig überraschend anzukündigen, dass er bei der EU-Wahl antreten werde, um ein Mandat im Europäischen Parlament zu bekommen. Sein jetziges Amt läuft Ende November aus.

Ohne Not setzt sich Michel damit dem Vorwurf aus, sich zur Unzeit einen Versorgungsposten zu sichern. Das ist sein gutes Recht. Für ein Parlament zu kandidieren ist in einer Demokratie eine edle Sache, formell auch in Ordnung.

Aber der ranghöchste Politiker Europas, das "Gesicht der EU" in der Welt, macht sich damit politisch zur "lame duck". Der Kapitän verlasse mitten im Sturm das Schiff, kritisierte die niederländische EU-Abgeordnete Sophie in 't Veld das Verhalten ihres liberalen Parteifreunds. Sie hat völlig recht. Michel sollte sein Amt rasch zurücklegen, weil er es beschädigt. Kandidaten für die Nachfolge gibt es genug, etwa starke weibliche (Ex-)Premiers wie Sanna Marin oder Mette Frederiksen. (Thomas Mayer, 8.1.2024)