Lara Gut-Behrami beherrscht perfekte Schwünge.
IMAGO/Pierre Teyssot

Zu Beginn ihrer Ära im Weltcup feierte Lara Gut-Behrami die Feste im Fallen. In ihrer ersten Abfahrt überhaupt, in St. Moritz, lag sie bei der letzten Zwischenzeit vorn. Über die Welle vor dem Zielschuss hob sie ab, nach der Landung suchte sie die Hocke, aber der linke Ski machte nicht mit. Sie verschnitt im Schnee, stürzte und plötzlich drehte es ihren Körper wie einen Kreisel, der gerade müde wird. Den wilden Sturz überstand sie unverletzt. Und weil sie sogar noch auf dem Rücken ins Ziel gerutscht war, kam sie noch in die Wertung, ja, ihre Fahrt reichte gar zu Platz drei. Mit reichlich Schnee im Gesicht strahlte Gut in die Kamera, die Fans im Ziel feierten sie. Damals war sie gerade einmal 16 Jahre alt.

Inzwischen zählt Gut-Behrami mehr als ihr halbes Leben lang zur Weltspitze. 16 Jahre später holt Gut-Behrami den Gesamtweltcup quasi, am Wochenende reichte ihr beim Riesenslalom in Saalbach-Hinterglemm ein zehnter Platz, um zur ältesten Gesamtweltcupsiegerin der Geschichte zu werden. In ihrer Karriere legte sie sich einst mit dem Schweizer Skiverband an, musste üble Schmähungen der Medien ertragen und zog sich zum eigenen Seelenwohl nach Italien zurück. Mit 32 fährt die Tessinerin so stark und so erfolgreich wie noch nie. Wie ist ihr das gelungen?

Lara Gut in der Abfahrt von St. Moritz 2008
Lucky Luciano

Technisch im Vorteil

"Sie war schon sehr jung erfolgreich, hat sich aber immer wieder neu erfunden", sagt Anna Veith dem STANDARD. Die Salzburgerin ist langjährige Wegbegleiterin von Gut-Behrami, die beiden fuhren schon in der Jugend gegen- und miteinander. Daraus entstand eine innige Freundschaft, die bis heute, vier Jahre nach Veiths Rücktritt, anhält. Veith freut sich "mit ihr, dass sie so eine mega Saison hinlegt und Spaß dabei hat".

Zum Saisonauftakt siegte Gut-Behrami im Riesenslalom von Sölden, es folgten sieben weitere Siege. Sie führt die Wertungen in Abfahrt, Super-G und Riesenslalom an, im besten und äußerst wahrscheinlichen Fall holt Gut-Behrami in diesem Winter vier Kristallkugeln. "Sie hat die Fähigkeit, ganz enge Schwünge zu fahren", sagt Veith. Mit ihrer Technik und der Art, wie sie Druck auf den Ski ausübt, fährt Gut-Behrami die Kurven enger als alle anderen. Veith: "Sie kürzt ab, fährt weniger Weg. So kann sie innerhalb von ein paar Kurven Zeit herausholen, die sie in flacheren Passagen verliert."

Um die Kurven enger nehmen zu können, brauche es perfektes Timing und ein ausgeprägtes Verständnis für die Linienwahl. "Wo fahre ich hin, wo setze ich die Kurve an, um eng rauszukommen? Das ist Kopfsache", sagt Veith. Weil Gut-Behrami in der Vergangenheit unzählige schnelle Schwünge in den Schnee gesetzt hatte, ist es für sie nun selbstverständlich, vor engen Passagen nicht weit auszuholen. Sie lenkt nicht nur um eine Kurve, sie benutzt sie, um Tempo für die Ausfahrt mitzunehmen. "Wenn ich zu viel davor überlege, wird es nicht gehen", sagt Veith. "Du musst dir ganz sicher, kompromisslos sein. Lara ist in einer bestechenden Form, wo sie genau weiß, wie sie das umsetzt. Das macht sie zu einer extrem spannenden Skifahrerin."

In Speedrennen hält Lara Gut-Behrami die Konkurrenz in Schach, indem sie Kurven direkter anfährt.
EPA/JEAN-CHRISTOPHE BOTT

Der Boulevard krönte sie einst zur Zicken-Weltmeisterin

Lara Gut kam am 27. April 1991 in Sorengo nahe dem Luganersee zur Welt. Ihre Mutter Gabriella war Sportlehrerin, Vater Pauli unterrichtete unter anderem Kunst. Die Eltern waren begeisterte Skifahrer. Der Vater hatte sehr eigene Vorstellungen und gründete daher einen Skiklub, um seine Tochter zu trainieren. Bald beendete er seine Lehrtätigkeit, um auch als Manager der Tochter zu arbeiten. Mit 15 startete Lara bei ersten FIS-Rennen, gewann WM-Silber bei den Juniorinnen in der Abfahrt. Ein Jahr später plumpste sie in St. Moritz ins Ziel, ihre Karriere hob ab.

Von außen betrachtet lässt sich behaupten: Die Schweiz hat keine Royals, aber sie hatte Lara Gut-Behrami. Sie wuchs in der Öffentlichkeit auf, das Land schaute ihr beim Erwachsenwerden zu und vereinnahmte sie als Skikönigin – samt untergriffigen Thesen und Anforderungen. Der Blick rief 2011 eine Zicken-WM aus, holte sich Expertise in Form von Juroren von Bild und Kronen Zeitung und verlieh Gut-Behrami Gold. In der Begründung hieß es: "Die Schweizerin ist zwar süß und sexy, leider hat sie aber null Bock auf Journalisten." Der Boulevard war beleidigt, weil sie keine Geschichten lieferte, und machte den eigenen Grant zur Geschichte.

"Sie hat schon immer gesagt, was sie denkt", sagt Veith. "Dadurch musste sie medial viel aushalten, weil sie unangenehme Dinge ansprach, immer wieder Kritik übte." In der Frühphase der Karriere forderte Gut-Behrami ein, dass ihr Vater vom Schweizer Verband als Privattrainer angestellt wird. Auch dieser Zwist wurde öffentlich ausgetragen. "Lara war wütend. Sie hat sich irgendwann gesagt: ‚Wenn das so ist, sage ich nichts mehr. Ihr dreht mir das Wort sowieso im Mund um‘", sagt Veith.

Die Hartnäckigkeit wurde belohnt: Gut-Behrami wurde Olympia- und Gesamtweltcupsiegerin und holte zwei WM-Titel. Sie löschte ihre Kanäle in sozialen Netzwerken, verzichtet auf Einnahmen, bekommt aber mehr Wohlbefinden. 2018 heiratete sie den Schweizer Fußballer Valon Behrami, die beiden leben heute in Italien nahe Udine. "Sie bleibt sich als Person treu, das macht sie so stark", sagt Veith. Gut-Behrami spricht fünf Sprachen, Deutsch, Englisch, Italienisch, Französisch und Spanisch, aber nur noch selten ausführlich mit Medien.

Wenn sie sich zu Wort meldet, hat es Gewicht, etwa wie in Sölden im Oktober, als sie nach dem Sieg über ihre Müdigkeit aufgrund ihrer Menstruation sprach und sich wünschte, dass junge Athletinnen mit mehr Wissen ausgestattet werden und besser mit den Auswirkungen des Zyklus umgehen können. "Sie sagt Dinge und verfolgt heute nicht mehr, was daraus gemacht wird", sagt Veith. "Sie lässt es ruhen, konzentriert sich auf sich selbst." Privat erlebte Veith ihre Freundin als "Herzensmenschen". "Mit ihr kann man alles besprechen, man weiß, das bleibt bei ihr. Mit ihr ist es immer lustig, sie strahlt Freude aus. Sie ist ein richtiger Sonnenschein."

Lara Gut-Behrami schließt zu Anna Veith auf und holt ihren zweiten Gesamtweltcup.
HANS KLAUS TECHT / APA / picture

Legitimer Erfolg

Die nun fast abgelaufene Skisaison war brutal. Zahlreiche Stars beendeten sie vorzeitig, weil Kreuzbänder rissen wie bei der Slowakin Petra Vlhova oder das Schienbein zu Bruch ging wie bei Sofia Goggia. Die Dominatorin der vergangenen Jahre, Mikaela Shiffrin, pausierte sechs Wochen mit einer Knieverletzung. Wie ist Gut-Behramis Leistung in Anbetracht der Ausfälle einzuschätzen? "Es ist auch eine Leistung, bei so vielen Rennen, die Lara fährt, gesund zu bleiben, ohne Sturz oder Ausfall durchzukommen", sagt Veith. Den Sieg im Gesamtweltcup dürfe man deshalb nicht schmälern, findet sie. "Lara holte in dieser Saison schon mehr als 1600 Punkte, das schaffen viele über die gesamte Karriere nicht."

Zuletzt entstand das Gerücht, Gut-Behrami könnte nach der Saison ihre Karriere beenden. "Sie wird auf ihren Körper hören", sagt Veith. "Wenn sie merkt, dass sie sich nicht mehr steigern kann, wird es ein Thema. Aber sie ist derzeit auf einem super Level."

2025 findet in Saalbach die WM statt, 2026 steht Olympia in Cortina an. Gut-Behrami wird die Skifeste feiern, wie sie fallen. (Lukas Zahrer, 16.3.2024)