Die Schwertwale (Orcinus orca) zählen nicht zuletzt wegen ihrer typischen schwarz-weißen Erscheinung zu den charismatischsten Mitgliedern der Delfinfamilie. Die bis zu zehn Meter langen Räuber sind intelligent, außerordentlich sozial und haben in ihren jeweiligen Lebensräumen – zum überwiegenden Teil Regionen der gemäßigten bis polnahen Klimazonen – unterschiedliche Ökotypen ausgebildet, die sich vor allem durch ihre bevorzugten Beutetiere unterscheiden.

So haben sich beispielsweise einige Populationen auf die Jagd nach Meeressäugern wie Robben oder Zwergwale spezialisiert, während es die sogenannten Coastal Fish-eaters meist in Küstennähe auf Fische abgesehen haben. In der Antarktis wiederum werden die Ökotypen A, B, C und D unterschieden, die sich jeweils kaum miteinander kreuzen und völlig unterschiedliche Lebensweisen an den Tag legen.

Schwertwal
Der Schwertwal OCX043 wurde am 9. September 2021 zusammen mit drei anderen Walen 175 Kilometer westlich von Bandon, Oregon, gesichtet. Er ist Mitglied einer besonders toughen Orca-Gruppe und kommt offenbar viel herum: Der Wal war zwei Jahre davor 300 Kilometer vor der Küste der Monterey Bay in Kalifornien beobachtet worden.
Foto: Robert L. Pitman, Oregon State University

Orca-Lebensentwürfe

Vor der Westküste Amerikas gelten einige Orca-Gruppen als "ortsansässig" (das heißt, sie bleiben weitgehend im selben Gebiet), während andere als immer wiederkehrende Durchreisende eingestuft werden. Die Vertreter der unterschiedlichen Lebensentwürfe sind teilweise dank zahlreicher Beobachtungen gut bekannt und lassen sich auch anhand äußerlicher Merkmale unterscheiden.

Nun sind Meeresbiologinnen und Meeresbiologen einer Gruppe von 49 Schwertwalen auf die Spur gekommen, die offenbar einen ganz eigenen Menüplan entwickelt hat. Die Mitglieder dieser kühnen Schar hat es nämlich auf recht große Beute abgesehen: Sie stellen Seeelefanten, Schildkröten und sogar Pottwalen nach. Was die Forschenden dabei besonders verblüffte, ist die Tatsache, dass die körperlichen Merkmale dieser Gruppe bisher nur von anderen Populationen bekannt waren.

Neun Zeugenaussagen

"Der offene Ozean ist der größte Lebensraum auf unserem Planeten. Beobachtungen von Schwertwalen auf hoher See sind daher selten", sagte Josh McInnes von University of British Columbia, Erstautor der nun im Fachjournal "Aquatic Mammals" erschienenen Studie. Daher weckte die wachsende Zahl von Berichten über diese ungewöhnliche Orca-Gruppe vor der Küste von Kalifornien und Oregon sein besonderes Interesse.

Obwohl die fragliche Population eigentlich schon seit 1997 beobachtet wird, waren unmittelbare Begegnungen mit Menschen bisher äußerst selten. McInnes und seine Kolleginnen und Kollegen haben nachgeforscht und insgesamt neun Zeugenaussagen ausgegraben, die sich auf diese spezielle Schwertwalpopulation bezogen. Die Beobachtungen waren zwischen 15 und 370 Kilometern vor der Küste gemacht worden und stammen von Fischern und Whale-Watching-Touristen, aber auch von Wissenschaftern.

Die Grafik zeigt die Unterschiede zwischen den drei bekannten Orca-Ökotypen, die vor den Küsten von Kalifornien und Oregon leben. Nun ist möglicherweise eine vierte dazugekommen.
Grafik: UBC Media Relations

Ungewöhnlicher Variantenreichtum

Die Analyse dieser Sichtungsberichte offenbarte einige Ungereimtheiten: "Während die Größe und Form der Rückenflossen dieser Tiere jenen von durchziehenden und ortsansässigen küstennahen Ökotypen glichen, zeigten die Brustflossen einen ungewöhnlichen Variantenreichtum", sagte McInnes. Auch die Umrisse und Farbe der Sattelflecken seien alles andere als einheitlich gewesen, so der Meeresbiologe: Einige hatten große, graue Sattelflecken, andere derselben Gruppe wiederum besaßen ebenmäßige, schmale Sattelflecken, wie man sie eigentlich von Schwertwalen in tropischen Regionen kennt.

Diese seltsame Mischung erweckt den Eindruck, als hätte sich hier eine Gruppe von ausgestoßenen Radaubrüdern und -schwestern zusammengefunden, um die Hochsee vor der US-Westküste unsicher zumachen. Jedenfalls macht ihr Speiseplan deutlich, dass selbst die größten Meeresbewohner nicht vor dieser Gruppe sicher sind.

Große Brocken auf dem Speiseplan

"Bei einer der ersten Begegnungen, die Forscher mit einer Gruppe dieser Schwertwale hatten, wurden die Tiere dabei beobachtet, wie sie eine Herde von neun erwachsenen weiblichen Pottwalen angriffen", berichtete McInnes. "Einer der Pottwale fiel den Orcas schließlich zum Opfer. Es ist das erste Mal, dass Schwertwale an der Westküste Pottwale angegriffen haben." Laut weiteren Berichten erlegte diese Population auch Zwergpottwale, Seeelefanten und Rundkopfdelfine. Zwischendurch gönnten sich die Orcas offenbar auch eine Lederschildkröte.

Mit einem großen Wal fertigzuwerden ist für die Schwertwale keine Kleinigkeit. Die Jagd beispielsweise auf Buckelwale kann für die Orcas durchaus böse enden. Pottwale sind jedoch noch einmal eine ganz andere Kategorie: Der Pottwal ist der größte unter den Zahnwalen und damit auch das größte Raubtier der Erde. Erwachsene Pottwalbullen erreichen eine Größe von über 18 Meter und bringen bis zu 50 Tonnen auf die Waage.

Pottwale (hier ein gestrandetes Exemplar in Whitehaven, Großbritannien) sind die größten Raubtiere der Erde. Mit diesen Ungetümen ist normalerweise nicht zu spaßen.
Foto: IMAGO/i Images/Stuart Walker

Angriff in Kleingruppen

Und doch scheuten die Orcas nicht vor diesen Giganten zurück, wie aus den von McInnes gesammelten Berichten hervorgeht. Mehr noch: Offenbar bereitete es ihnen auch keine große Mühe, die Oberhand zu behalten: "Die Pottwale waren in einer Art Rosettenformation angeordnet", schreiben die Autoren. "Immer wieder wählten kleine Gruppen von vier bis fünf Orcas einen der Pottwale aus und griffen diesen von der Seite und von unten an. Nach jedem Angriff waren frisches Blut und ein Ölteppich aus tierischem Fett an der Oberfläche zu beobachten. Mehrere Pottwale zeigten danach schwere, vielleicht sogar tödliche Verletzungen. Einer der Pottwale wurde schließlich erlegt, aus der Herde fortgeschleppt und von den Schwertwalen zumindest teilweise verspeist.

Einen brauchbaren Hinweis darauf, wo die Gruppe überall unterwegs sein könnte, lieferten charakteristische Bissspuren an den Orcas. 46 der 49 Schwertwale tragen Narben, die auf Angriffe durch Zigarrenhaie (Isistius brasiliensis) hinweisen. Diese maximal einen halben Meter langen Raubfische haben sich darauf spezialisiert, mit ihrem rasiermesserscharfen Gebiss Fleisch aus Großfischen und Meeressäugern herauszubeißen. Da Zigarrenhaie tropische Gewässer bevorzugen, deutet die Häufigkeit der Bisse darauf hin, dass die Orcas wahrscheinlich viel Zeit in tiefen Gewässern weiter südlich verbringen.

"Wir vermuten, dass diese speziellen Schwertwale eine Subpopulation aus dem offenen Meer darstellen", sagte McInnes. "Eine Gruppe, die vermutlich weit umherzieht und bisher noch nicht als eigene Variante beschrieben wurde." Das Team hofft nun auf weitere Beobachtungen, die seine Hypothese bestätigen könnten. (Thomas Bergmayr, 20.3.2024)