Ein russisches Forschungsteam fragt sich, was wohl in diesen Schwertwal gefahren ist – der nun veröffentlichte Untersuchungsbericht ließ jedenfalls viele Fragen offen: Das Tier war 2020 am Strand einer der Kommandeurinseln nahe der fernöstlichen Halbinsel Kamtschatka angespült worden, fernab seiner üblichen Jagdrouten. Bei der Öffnung des Kadavers stießen die Forschenden zwar auf die mögliche Todesursache, doch diese erwies sich als äußerst kurios: Das Weibchen hatten den Bauch und den Schlund voller Seeotter (Enhydra lutris) – insgesamt sieben Stück holte man aus seinem Leib.

Im Hals steckengeblieben

An sich stehen Otter in dieser Region selten auf dem Speiseplan von Orcas, umso erstaunlicher war daher die hohe Anzahl der Beutetiere und vor allem die Tatsache, dass der Wal sie im Ganzen verschluckt hatte. Bei ihrer Untersuchung entdeckten die Wissenschafter sechs Seeotter im Magen des Tieres sowie ein junges Männchen, das hinter dem Rachen in der Speiseröhre steckengeblieben war.

Seeotter, Schwertwal, angeschwemmt, Russland, Rätsel
Sieben Seeotter landeten im Bauch des Schwertwales. Die Entdeckung erinnert an märchenhafte Motive, doch diese Geschichte hier ging für den Räuber und die Verschlungenen gleichermaßen übel aus.
Foto: Sergey V. Fomin/Olga Filatova

Das Team vermutet, dass diese letzte Mahlzeit des Orcas seinen Tod verursacht hat. Insgesamt brachten die Otter zusammen 117 Kilogramm auf die Waage. Dutzende Tintenfischschnäbel, die man im Darm des Wals fand, wiesen auf vorangegangene Verköstigungen hin.

Verschiedene Ökotypen

Schwertwale (Orcinus orca) zählen zu den charismatischsten Mitgliedern der Delfinfamilie. Die bis zu zehn Meter langen, schwarz-weiß gefärbten Räuber sind intelligent, außerordentlich sozial und haben in ihren jeweiligen Lebensräumen – zum überwiegenden Teil Regionen der gemäßigten bis polnahen Klimazonen – unterschiedliche Ökotypen ausgebildet, die sich vor allem durch ihre bevorzugten Beutetiere unterscheiden.

Einige Populationen haben sich auf die Jagd nach Meeressäugern wie Robben oder Zwergwale spezialisiert, während es die sogenannten "coastal fish-eaters" meist in Küstennähe auf Fische abgesehen haben. Seeotter dagegen waren auf dem Menüplan der Orcas bisher kaum an prominenter Stelle aufgeschienen. "Es gab zwar einige Beobachtungen, wie sie Seeotter belästigten und töteten, aber nur sehr wenige Beweise für den tatsächlichen Verzehr", erklärte Olga Filatova an der Staatlichen Universität Moskau, die an der im Fachjournal "Aquatic Mammals" veröffentlichten Studie mitgearbeitet hat.

Seeotter, Schwertwal, angeschwemmt, Russland, Rätsel
Orcas jagen normalerweise im Verband. Warum sich der Schwertwal aus nordamerikanischen Gewässern vor Kamtschatka herumgetrieben hat, bleibt ein Rätsel.
Foto: REUTERS/Kim Kyung-Hoon

Am Verhungern oder verrückt

Vor allem aber würden Orcas dazu neigen, ihre Nahrung zu zerreißen und nur die besten Stücke tatsächlich zu verzehren (bei Haien ist das üblicherweise die Leber, wie zuletzt einige spektakuläre Beobachtungen zeigten). Das Verschlingen ganzer über einen Meter langer Seeotter muss für den Orca daher eine große Herausforderung gewesen sein.

Das macht den Fall um den Orca vor Kamtschatka noch seltsamer. "Ich bin mir nicht sicher, warum dieser Wal versucht hat, sieben Seeotter hintereinander zu verschlingen – vielleicht war er am Verhungern, krank oder verrückt", meinte Filatova.

Doch es gibt noch weitere Rätsel: Laut der DNA-Analyse war der Orca Teil einer Population, die als "Bigg's killer whales" bekannt ist. Das Verbreitungsgebiet dieser Gruppe liegt eigentlich weit im Osten und erstreckt sich von den Aleuten und dem Golf von Alaska im Osten bis zur Küste Kaliforniens hinunter. Was der Meeressäuger alleine in den Gewässern der Kommandeurinseln zu suchen hatte, bleibt offen. Die Forschenden äußern den Verdacht, dass der Wal sein merkwürdiges Fressverhalten dort gelernt hat, wo er ursprünglich herkam.

Video: Ein Seeotter gerät vor Alaska ins Visier eines Orcas - doch er kann sich retten.
T&T Creative Media

Ein anderes Mysterium

Das wiederum könnte ein ganz anderes Mysterium lösen helfen. Seit 2008 beobachten Biologinnen und Biologen einen Rückgang der Seeotterbestände in den Gewässern vor Alaska und den Aleuten. Man hatte zwar bereits seit langem die Orcas in Verdacht. Doch der in Russland angespülte Kadaver würde erstmals einen direkten Beweis dafür liefern, dass zumindest eine nordamerikanische Population den Seeottern gewohnheitsmäßig nachstellt.

"Die Untersuchung der Mägen gestrandeter Schwertwale ist von entscheidender Bedeutung für die Erforschung der Ernährungsweise bestimmter Gruppen", meinen Filatova und ihre Kolleginnen und Kollegen. "Durch Beobachtungen alleine bleibt oft unklar, ob der Angriff eines Orcas eine echte Jagd darstellt, um den Hunger zu stillen, oder ob es sich bloß um Spielerei oder Schikane handelt." (Thomas Bergmayr, 4.10.2023)