Der Hafen von Baltimore ist voller Sicherheitskameras, was den meisten Menschen offenbar nicht bewusst ist.
IMAGO/Benjamin Chambers/Delaware

Die Videos gingen am Dienstag schnell viral. Das Containerschiff Dali rammte die Francis Scott Key Bridge, die daraufhin spektakulär zusammenbrach. Sechs Menschen sind weiterhin vermisst, die Stadt Baltimore ist im Schockzustand, auch weil die wirtschaftlichen Folgen nach dem Unfall schwer abzuschätzen sind. Baltimore ist der verkehrsreichste US-Hafen für Autotransporte. 2023 wurden dort nach Angaben der Regierung von Maryland knapp 850.000 Autos und leichte Lkws verladen. Es wurde von den lokalen Behörden sogar die Befürchtung geäußert, dass der Einsturz zu Lieferkettenproblemen mit Folgen für die gesamten USA führen könnte.

Im Internet beschäftigten sich unzählige Menschen allerdings initial weniger mit der Tragödie oder den wirtschaftlichen Folgen, als viel mehr mit diversen Verschwörungstheorien. "Ich stelle nur Fragen", heißt es seit gestern auf diversen Social-Media-Plattformen. Ein Wording, das man vor allem aus der Pandemie-Zeit noch sehr gut kennt. Um Beweise jeglicher Art geht es auch hier selten. Ohne Grundlage werden Theorien aufgestellt, Ideen verbreitet – Verschwörungstheorien geboren. Weil heute jedes Informationsvakuum offenbar mit einer Verschwörung gefüllt werden muss.

Falsche Hinweise

"Warum gibt es so viele Kamerawinkel bei diesem Ereignis? Filmen immer so viele Menschen die Brücke zur selben Zeit?", lautet eine der ersten Wortmeldungen unter dem Video auf der Videoplattform X, die von unzähligen Menschen aufgegriffen und weitergetragen wird. "Wie konnten die Menschen wissen, dass hier etwas passieren wird?" "Warum haben Menschen bereits genau an dieser Stelle aufgenommen?" Wie ein Schneeball wird die Kameraverschwörung immer größer. Sie ist aber nicht die einzige.

Manche vermuten einen terroristischen Akt, andere machen Israel für diesen "Angriff" verantwortlich. Es könne ja kein Zufall sein, dass nachdem sich die USA für einen Waffenstillstand in Gaza ausgesprochen hätten, ein Transportschiff eine US-Brücke ramme. "Das ist kein Zufall und auch kein Unfall", wird speziell auf X herausposaunt. Fast ausschließlich von Leuten mit Bezahlaccounts, wie mehreren X-Nutzern auffällt.

Sogar die Frage wird mehrfach aufgeworfen, wie es überhaupt sein könne, dass eine Brücke nach solch einem Zusammenstoß einstürze. Dass ein solches Frachtschiff in der Regel um die 100.000 Tonnen wiegt, scheinen die meisten auszublenden. Manche selbsternannten Experten versichern in ihren Kommentaren, dass man ein solches Schiff auch ohne Strom an Bord steuern könne. Man hätte das Schiff also ganz einfach noch unter der Brücke durchmanövrieren können. "Das sieht mir sehr nach Absicht aus."

Die Position des Weißen Hauses wird am selben Morgen, der Unfall passierte um 1.30 Uhr Früh, der Öffentlichkeit kommuniziert. Erste Untersuchungen hätten ergeben, dass hinter dem Zusammenstoß keine Absicht stand. Zuvor hatte sich schon der zuständige Gouverneur des US-Bundesstaates Maryland zu Wort gemeldet. Auf dem Schiff gab es nach Angaben der Besatzung ein Problem mit dem Strom. Laut dem Gouverneur seien dank des Notsignals Beamte in der Lage gewesen, den Verkehr zu stoppen, damit nicht noch mehr Autos auf die Brücke gelangten. Weitere Informationen zur Ursache gebe es aber nicht. Der Gouverneur betonte jedoch, die vorläufige Untersuchung deute auf einen Unfall hin. Hinweise auf eine vorsätzliche Tat oder gar einen Terroranschlag gebe es nicht.

Hinterfragen nicht falsch

Es gibt viele Beispiele, auch aktuelle, bei denen tragische Ereignisse zu Spekulationen hinreißen haben lassen. Die Spekulationen rund um Kate Middleton und ihren Gesundheitszustand. Der Anschlag auf eine Konzerthalle bei Moskau ließ beispielsweise in russischen und russlandfreundlichen Onlinemedien zahlreiche Erzählungen rund um eine global angelegte Verschwörung gegen Russland kursieren, die von zahlreichen Anhängern schnell verbreitet wurden. Daneben gibt es dann auch immer wieder Theorien, die sich über Jahre oder Jahrzehnte halten und immer wieder durch neue "Beweise" befeuert werden. Eines der populärsten noch immer ist etwa, dass Facebook und Co Gespräche am Smartphone mithören würden, um zielgerichtete Werbung schalten zu können. Das ist ein Mythos, wie wir Ende des Jahres versucht haben zu erklären.

"Mashable" zitiert in diesem Zusammenhang den Autor Ryan Broderick, der in seinem Newsletter passend dazu geschrieben hat: "In den letzten 25 Jahren haben wir langsam jeden Teil unseres Lebens auf diverse Plattformen hochgeladen, die von Algorithmen betrieben werden, die mit unseren schlimmsten Impulsen Geld verdienen." Laut Broderick hätten wir uns die letzten Jahre gefragt, wie die Welt wohl aussehen würde, wenn wir die Schwelle zu einer "vollständigen Onlinewelt überschreiten" würden. Dies sei nun passiert. Wir hätten sie überschritten, und so "sieht sie jetzt aus".

Einfache Erklärungen

Skepsis gegenüber im Internet verbreiteten Bildern oder Videos zu haben ist im Zeitalter von immer besseren Bild-KIs sicher angebracht. Sich Gedanken über das Gesehen zu machen ist genauso sinnvoll, wie im Netz verbreitete Gerüchte nicht gedankenlos zu übernehmen. Im Idealfall diskutiert man mit Menschen, die es wissen müssen. Etwa warum diese Brücke unter dem Druck des Frachtschiffes nachgeben musste. Die STANDARD-Kollegin Julia Sica hat dazu am Mittwoch mit Josef Fink von der Technischen Universität Wien gesprochen. "Auslöser für den Einsturz waren die ungewöhnlich filigran konstruierten Betonstützen", sagte er auf Nachfrage des STANDARD. Heutzutage hätten Brückenpfeiler in Flüssen zudem bessere Schutzmechanismen und seien so konstruiert, dass die Last beim Einsturz eines Pfeilers umverteilt wird.

Das Zusammenbrechen einer ganzen Brücke wäre dann nicht mehr möglich. Beim Bau der Brücke in Baltimore 1977 waren diese Überlegungen noch nicht Teil des Prozesses. (aam, 27.3.2024)