"Diese Entscheidung ist uns nicht leichtgefallen." So leitet die Hilfsorganisation Anera ihre öffentliche Mitteilung ein, wonach sie ab sofort ihre Tätigkeit im Gazastreifen einstellen müsse. Der Grund: In Gaza humanitär tätig zu sein "setzt nicht nur die Helfer einem großen Risiko aus, sondern auch die, die diese Hilfe erhalten". Dies könne man nicht mehr verantworten. Anera ist eine der Organisationen, die in Koordination mit den Vereinten Nationen an sechs Standorten warme Mahlzeiten an Bedürftige ausgeben. Laut eigenen Angaben konnten pro Tag rund 50.000 Menschen mit Essen versorgt werden.

Ein getroffenes Fahrzeug der WCK.
EPA/MOHAMMED SABER

Am Tag zuvor hatte World Central Kitchen (WCK) ihre Versorgung mit Nahrungsmitteln eingestellt, nachdem sieben ihrer Helfer bei einem Beschuss durch die israelische Armee ums Leben gekommen waren. Der Angriff auf WCK hat international Schlagzeilen gemacht, Israel hat die Verantwortung dafür übernommen. "Das hätte nicht geschehen dürfen", sagte Generalstabschef Herzi Halevi am Dienstag. WCK versorgte täglich rund 300.000 Menschen.

Laut Anera ist es aber kein bedauerlicher Einzelfall, sondern "Teil eines Musters". Die NGO wirft Israel "gezielte Angriffe auf humanitäre Helfer" vor. Bei einem solchen Angriff sei vor einem Monat auch einer ihrer Mitarbeiter ums Leben gekommen.

VAE pausieren Hilfe

Es sind nicht nur kleine und mittelgroße NGOs, die ihre Arbeit einstellen. Auch große Förderer humanitärer Hilfe ziehen sich nun zurück: Die Vereinigten Arabischen Emirate (VAE) gaben am Dienstag bekannt, dass sie sich aus ihrer Beteiligung am maritimen Hilfskorridor nach Gaza zurückziehen, solange Israel die Sicherheit humanitärer Hilfe nicht garantiert. Die Emirate sind seit Beginn des Kriegs im Gazastreifen eine wichtige Stütze für medizinische Nothilfe und Lebensmittellieferungen – zuletzt auch als Co-Financier der US-amerikanischen Pläne für einen schwimmenden Hafen vor Gaza.

Gaza
Über Gaza abgeworfene Hilfe durch die Spanier.
IMAGO/Europa Press/ABACA

Die ohnehin brüchige Hilfsmittelversorgung in Gaza verliert somit immer mehr Akteure. Und das, nachdem der Hauptträger der Hilfsinfrastruktur in Gaza, das UN-Palästinenserhilfswerk UNRWA, nach israelischen Vorwürfen einer Verwicklung in Terroraktivitäten seine wichtigsten Geldquellen verloren hat und nur noch eingeschränkt arbeiten kann.

Diplomatischer Druck auf Israel

Dass Israels Armee die erste Analyse des Vorfalls so schnell abgeschlossen hatte und dass diese auch bald in ein Schuldeingeständnis und ein öffentliches Bedauern mündete, steht im Gegensatz zu früheren ähnlichen Vorwürfen in diesem Krieg. Immer wieder wurde das Militär damit konfrontiert, dass humanitäre Helfer bei Beschuss aus der Luft ums Leben gekommen waren, die Armee wies die Verantwortung aber stets von sich. Diesmal finden sich unter den Todesopfern jedoch nicht nur Palästinenser, sondern auch Staatsangehörige der USA, Kanadas, Großbritanniens und Polens. Der Vorfall wird daher auch zu einer diplomatischen Causa, der Druck ist entsprechend groß.

Die Armee erklärt, der Beschuss sei Resultat einer "fehlerhaften Identifikation, in der Nacht, im Krieg, unter sehr komplexen Bedingungen". Dem steht entgegen, dass sich die Helfer zuvor mit der Armee abgestimmt hatten. Die Koordinaten des Konvois waren den Truppen bekannt, seine Route galt als Nichtangriffszone. Dunkelheit ist für die israelische Armee in der Regel kein Hinderungsgrund für Schusspräzision. Dazu kommt, dass in diesem Fall offenbar nicht nur einmal geschossen wurde. Laut einem "Haaretz"-Bericht wurden in einigem zeitlichem Abstand zueinander drei Raketen auf die Fahrzeuge abgefeuert, weil die Truppen einen Hamas-Kämpfer in einem der Autos vermuteten. Von der "New York Times" verifizierte Satellitenbilder zeigten, dass das nördlichste und das südlichste getroffene Fahrzeug mehr als zwei Kilometer voneinander entfernt standen. Wie die Kommandokette in diesem Fall verlief und ob die Regeln eingehalten wurden, werden weitere Untersuchungen klären. Grundsätzlich müssen beim Beschuss sensibler Ziele – und ein solches war der Konvoi – besondere Vorkehrungen getroffen werden, höhere Kommandoebenen müssen in die Entscheidung einbezogen werden.

Israelische Menschenrechtsorganisationen wie Breaking the Silence haben seit Beginn des aktuellen Gazakriegs mehrmals kritisiert, dass die Armee einige dieser Sicherungen gelockert hat. (Maria Sterkl aus Jerusalem, 3.4.20224)