In Wien sind die Schulen am Limit: Zu wenig Platz in den Gebäuden und auch zu wenige Lehrkräfte stehen auf der einen Seite der Rechnung – dafür zu viele Kinder und Jugendliche im schulpflichtigen Alter auf der anderen. Es geht sich nicht mehr aus. Schuld an dem Engpass sollen die multiplen Krisen im Ausland sein. Und die Bundesregierung – zumindest wenn es nach den Verantwortlichen in Wien geht. Aber ist das tatsächlich so?

Zu wenige Gebäude, zu wenige Lehrkräfte – viele Wiener Schulen sind am Limit.
Foto: Heribert Corn

Christoph Wiederkehr ist als Bildungsstadtrat in Wien nicht nur für die Schulen zuständig, sondern verantwortet auch das Thema Integration. Zwei Bereiche, die sich in den vergangenen Jahren immer weiter zugespitzt haben. Oft sind kurzfristige Lösungen gefragt. Zuletzt präsentierte der Wiener Neos-Chef darum seinen Plan, "mobile Schulklassen" in Wien zu errichten. Sprich ab Herbst Container aufzustellen. An fünf Schulstandorten sollen so jeweils bis zu neun Klassen hinzukommen – auf Sportplätzen, im Hof, auf der Wiese. Das regt die Eltern der betroffenen Schulen auf. Gegen die Initiative der rot-pinken Stadtregierung wird protestiert.

Kinder kommen nach

"Wir haben in Wien sehr viele Familienzusammenführungen", rechtfertigt Wiederkehr die Entscheidung im STANDARD-Gespräch. Rund 350 Kinder und Jugendliche seien zuletzt pro Monat nach Wien gekommen, weil ein Mitglied ihrer Familie zuvor Asyl erhalten hat und sie nachholen durfte, rechnet die Bildungsdirektion vor. Dazu komme der Angriff Russlands auf die Ukraine, wegen dem seit Februar 2022 rund 4000 Schülerinnen und Schüler aufgenommen wurden. Das führe zu einem erhöhten Bedarf an Schulplätzen. Wiederkehr will, dass "alle Kinder in Wien gute Bildungschancen" haben: "Darum brauchen wir kurzfristig Schulraum."

Für kleine Schulen wie jene in der Rittingergasse in Floridsdorf steigert sich die Schülerzahl dadurch enorm, kritisiert der lokale Elternverein – von knapp 300 auf fast 500. "Selbstverständlich ist es für Schulen eine Herausforderung, schnell so stark zu wachsen, darum unterstützen und begleiten wir sie bei diesem Prozess", sagt Wiederkehr. Aber auch das reicht nicht. Neben den Containern würden in Wien weitere Räume angemietet.

Unmut über Schulcontainer

Der Platz kann also kurzfristig geschaffen werden – auch wenn es Unmut erzeugt. Aber wer soll diese Kinder unterrichten? Mit einem Minus von 30 Lehrkräften starteten die Schulen in das aktuelle Schuljahr. Der Lehrermangel: ein Problem, das bereits länger bekannt ist. Das Loch soll seit einiger Zeit auch durch die Möglichkeit des Quereinstiegs gestopft werden. In Wien kamen so 240 Personen in Bildungseinrichtungen unter. Das ist ein Zehntel der Lehrkräfte, die in Wien in diesem Schuljahr angestellt wurden.

Doch es reicht nicht. Etwa durch Karenzierungen schwanke die Summe jener, die fehlen, stark, sagt Wiederkehr. Bis zu 100 Personen hätten heuer zwischenzeitig schon gefehlt. Die Leerstellen würden durch Mehrdienstleistungen der anderen Lehrkräfte abgedeckt, heißt es aus der Bildungsdirektion.

Mittlerweile stellt Wien auch während des Schuljahrs an. Was allerdings nicht geht: Quereinsteigerinnen oder Quereinsteiger für die Volksschulen zu holen – eine Lücke, von der Wiederkehr das Ministerium auffordert, sie zu schließen.

Hohe Mieten in kaputten Häusern: Viele der neu ankommenden Familien leben aus purer Not in Substandardwohnungen.
Heribert Corn

Integration am Land

Das ist aber nicht die einzige Forderung, die Wien an den Bund stellt. Unterstützung will man – und eine Wohnsitzauflage für anerkannte Flüchtlinge ohne Job. Drei Jahre sollen sie in jenem Bundesland leben, in dem ihr Verfahren durchgeführt wurde, verlangt Wiederkehr. Unterstützung bekommt er von Wiens Bürgermeister Michael Ludwig (SPÖ). In der Bundesregierung bezweifelt man hingegen, dass dies menschenrechtskonform sei. Nicht so Wiederkehr: "Wenn Integration in anderen Bundesländern lokal besser möglich ist, ginge das", sagt er. Zumeist sei das der Fall: "Wenn der Großteil der Flüchtlinge nach Wien kommt, ist das nicht gut für ihre Integration. Gerade was den Zugang zum Arbeitsmarkt betrifft, könnten sie bessere Chancen im ländlichen Raum haben."

Die Bundesregierung ziehe sich jedoch "aus der Verantwortung", sagt Wiederkehr. Schließlich sei bei der Fluchtbewegung 2015 und 2016 eine insgesamt sogar geringere Anzahl an Kindern nach Österreich gekommen. Damals habe es jedoch große Unterstützungspakete geben – etwa in Form von zusätzlichen und mehrsprachigen Lehrkräften, Unterstützungspersonal oder Sozialarbeitern.

Polaschek fördert Lernhilfe

Das Bildungsressort sieht das anders: Man helfe der Stadt Wien seit vorigem Herbst "bei organisatorischen und rechtlichen Fragen", heißt es auf STANDARD-Anfrage im Büro von Minister Martin Polaschek. Die Ressourcen für Deutschförderung seien um 30 Prozent auf 40 Millionen Euro aufgestockt worden. Darüber hinaus stelle das Ministerium im Auftrag der Stadt Wien Schulsozialarbeiter bereit, diese wurden ebenso aufgestockt. 14 Millionen Euro gebe es für Lernhilfe gemeinsam mit NGOs: "Auch das kommt diesen Schülerinnen und Schülern zugute."

Denn gerade Kinder mit Fluchterfahrung oder Migrationshintergrund stellen die Lehrenden oft vor große Herausforderungen. Jene, die zu schlecht Deutsch sprechen, um dem Unterricht zu folgen, müssen als außerordentliche Schülerinnen und Schüler eine Deutschförderklasse besuchen. Im aktuellen Schuljahr wurden 1412 solcher Klassen eingerichtet – 620 in Wien. Insgesamt besuchen 49.000 Kinder Deutschfördermaßnahmen – Klassen oder Kurse, 18.300 in Wien.

Doch auch das ist für manche Kinder nicht genug. Wien eröffnete nach Ostern zwei "Orientierungsklassen" für Flüchtlingskinder mit keiner oder kaum Schulerfahrung. Derzeit besuchen diese 30 syrische Kinder und Jugendliche und erhalten besondere sprachliche und psychosoziale Unterstützung. Ein dritter Kurs soll am 10. April starten.

Aber ist es tatsächlich so überraschend, dass jetzt Familien mit Kindern nachkommen und hier in die Schule gehen? Jein, heißt es aus der Stadt. Man habe zwar mit dem Familiennachzug gerechnet, nicht aber mit den ukrainischen Kindern.

Viele Kinder mit Müttern

Trotzdem: Die neuen Schülerinnen und Schüler sind nicht vom Himmel gefallen. Dass in Österreich aufgrund von Familiennachzug mit der Ankunft tausender Frauen und Kinder vor allem aus Syrien zu rechnen war und dass die Kinder unterrichtet werden müssen, wussten alle, die sich mit Flüchtlingspolitik beschäftigen – vom Innenministeriumsbeamten bis zu Schul- und Wohnbehörden.

"In der Flüchtlingspolitik gibt es nichts Planbareres als den Familiennachzug", sagt Lukas Gahleitner, Sprecher der Asylkoordination. Tatsächlich ist den Asylbehörden bekannt, wie viele Antragstellende im Herkunftsstaat oder in einem auf dem Weg liegenden Land – etwa im Libanon oder in der Türkei – nahe Angehörige haben: Ehemänner oder -frauen, Eltern oder minderjährige Kinder. Es ist ausrechenbar, wie viele solche Angehörige in etwa nachkommen werden – und auch, wann der Nachzieheffekt wieder endet: Die Nachkommenden haben ihrerseits nämlich kein Recht auf Familiennachzug mehr. Von drohender "Massenzuwanderung", wie es vor wenigen Tagen aus der Wiener FPÖ tönte, kann somit keine Rede sein.

Wie aber funktioniert der Familiennachzug konkret? Enge Angehörige einer Person, die hierzulande Asyl oder subsidiären Schutz erhalten hat, können bei einer österreichischen Vertretung den Antrag auf Einreise stellen; Asylberechtigte sofort, Menschen mit subsidiärem Schutz nach drei Jahren. 2023 taten das 12.807 Syrerinnen und Syrer, zahlenmäßig gefolgt von 399 Personen aus Afghanistan und 249 aus Somalia.

Außenministerium und Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (BFA) geben daraufhin eine Prognose ab, wie hoch die Chance auf Verbleib in Österreich ist. Ist der Befund positiv, dürfen die Angehörigen einreisen und einen eigenen Asylantrag stellen. Sie kommen wie andere Flüchtlinge anfangs auch in ein Erstaufnahmezentrum und danach in die Ländergrundversorgung. Ihren Asylanträgen wird zuallermeist stattgegeben, und zwar bereits nach viereinhalb bis neun Monaten, also rascher als in den meisten anderen Fällen; immerhin wurde ja bereits eine positive Prognose erstellt.

Teil der Asylstatistik

Asylanträge nach Einreisegestattungen fließen in die normale Asylstatistik ein. 2023 waren das 9180 von den in dem Jahr insgesamt 59.232 Asylbegehren. Heuer ist dieser Anteil stark gestiegen. Vor dem Hintergrund geringer Asylantragszahlen aufgrund verstärkter Kontrollen der serbischen Polizei und einer darauf folgenden Verlagerung der Schlepperrouten gingen im Jänner und Februar 2024 bereits 41 Prozent aller Asylanträge auf Familiennachzug zurück: 1832 von insgesamt 4470 Anträgen.

Dem Standard liegt eine Aufschlüsselung des Familiennachzugs der Jahre 2022 und 2023 nach dem Alter der so ins Land gekommenen Personen vor. Es handelt sich um eine extrem junge Gruppe, viele Kinder mit Müttern. 69 Prozent waren minderjährig, die meisten davon (38 Prozent) jünger als sechs Jahre. Rund 25 Prozent waren zwischen sieben und 14 Jahren, sieben Prozent zwischen 14 und 18 Jahren alt. Nur insgesamt 31 Prozent waren älter.

In Zahlen handle es sich dabei um rund 3200 Kinder im schulpflichtigen Alter in ganz Österreich und in den vergangenen zwei Jahren, sagt Asylkoordinationssprecher Gahleitner. Vor dem Hintergrund der großen Fluchtbewegung aus der Ukraine vor zwei Jahren könne das Kindergärten, Schulen und Wohnpolitik vorübergehend unter Druck bringen. Jedoch: "Ein sprunghafter Anstieg schaut anders aus."

Szene aus Ruth Beckermanns neuem Film "Favoriten". Der Eröffnungsstreifen bei der Diagonale 2024 zeigt unter anderem eine Schulklasse, in der kein Schüler und keine Schülerin Deutsch als Muttersprache hat.
Ruth Beckermann

Die Schulen sind indes nicht der einzige Bereich, in dem der Familiennachzug Probleme schafft – und zwar den Flüchtlingsfamilien selbst. Berichte der ORF-Fernsehmagazine Report und Konkret in den vergangenen Wochen förderten ausbeuterische und gesundheitsschädliche Zustände in mehreren Wiener Miethäusern zutage. 600 bis 1000 Euro pro Monat müssen Syrer und Syrerinnen dort an einen ägyptischen Hausverwalter für kleine, verschimmelte und baufällige Wohnungen abdrücken.

"Als ich den Bescheid bekam, dass ich meine Familie aus dem Flüchtlingslager in der Türkei holen kann, war ich unter Zugzwang", schilderte etwa ein syrischer Familienvater im Report. Sein Job bei McDonald’s habe nicht genug Geld für die Anmietung einer passenden Wohnung eingebracht: "Also musste ich diese Wohnung nehmen": eine Bleibe ohne funktionierende Heizung, wo die Kinder Ausschläge bekommen, sodass eine Ärztin den sofortigen Auszug empfiehlt. "Fragen des Wohnraums sind das derzeit größte Problem in der Integrationspolitik", sagt Christoph Riedl, Integrationsexperte der Diakonie.

Die massiven Mietsteigerungen der vergangenen Jahre, die auch Normalverdiener vor Finanzprobleme stellen, treffen anerkannte Flüchtlinge in schlecht bezahlten Jobs noch stärker. Zwar bieten etwa die Volkshilfe, die Diakonie und der Österreichische Integrationsfonds (ÖIF) leistbare Startwohnungen an. Doch angesichts des derzeitigen Familiennachzugs sind es zu wenige; der umstrittene Verkauf von 270 derartigen Wohnungen vor 13 Jahren durch den ÖIF, statt deren Zahl aufzustocken, hängt immer noch nach. Nicht nur wegen der damit verbundenen Anklage, sondern strukturell.

Das trifft vor allem Flüchtlinge, die während des Verfahrens in organisierten Grundversorgungsquartieren lebten. Der Flüchtlingsstatus geht für sie mit einem Sturz ins Prekäre einher: Wie auf die Schnelle einen Job finden? Wie eine Wohnung finanzieren?

Bauoffensive als Chance

Hinzu kommt, dass viele Asylberechtigte für den Antrag auf eine Gemeindewohnung zu kurz in Österreich sind. Die angekündigte Bauoffensive eröffnet ihnen zumindest in Zukunft Chancen.

Gebaut könnte auch an den Schulstandorten werden, wo bald Container stehen, längerfristige Anbauten würden geprüft. Das Ziel: "Schulanbauten zu errichten unter Einbindung der Schule", sagt Wiederkehr. Nicht immer geht das schnell. In Wien gibt es bis heute Containerklassen, die in den 1990ern aufgestellt wurden, sagt der Bildungsstadtrat. Die seien sogar recht beliebt. (Irene Brickner, Oona Kroisleitner, 6.4.2024)