Junge Menschen sitzen am Donaukanal, trinken Bier und unterhalten sich.
Für viele gehört das Meidlinger L zum typischen Sound der Stadt Wien.
SlavkoSereda/Getty Images

Wenig bringt einen Reisenden so schnell auf den Wiener Boden der Tatsachen (zurück) wie ein Meidlinger L am Bahnhof. Manche würden argumentieren, dass dieser spezielle Zungenschlag am Haupt- oder Westbahnhof seltener zu hören sei als früher: Andere sprachliche Einschläge und Soziolekte hätten sich durchgesetzt. Wie bekannt die Wiener Variation wirklich ist und was Menschen überhaupt genau unter einem Meidlinger L verstehen, das will die Österreichische Akademie der Wissenschaften (ÖAW) nun erforschen.

Ein echter Wiener geht nicht unter - Mundl verwechselt Tiroler
"Endlich, da sind Sie ja!" Hörprobe des Meidlinger L von Edmund "Mundl" Sackbauer in "Ein echter Wiener geht nicht unter".
Corny C

Ein bekannter Vertreter, der das speziell ausgesprochene L in der DNA verankert zu haben scheint, ist die Kunstfigur Mundl aus "Ein echter Wiener geht nicht unter", ikonisch gespielt vom mittlerweile verstorbenen Karl Merkatz. Was nicht heißen soll, dass man es nicht erlernen könnte. Die meisten Sprecherinnen und Sprecher werden allerdings durch ihr Umfeld geprägt worden sein.

Das kann in Meidling, dem zwölften Wiener Gemeindebezirk, geschehen, der der Variante ihren Namen gibt. Freilich wird es auch in anderen Bezirken gesprochen. Historisch passt es sogar besser zum zehnten Bezirk: In Favoriten lebten die meisten aus Böhmen und Mähren zugezogenen Arbeiter, denn am Wienerberg befand sich die Fabrik, die die Stadt vom Arsenal bis zu den Ringstraßenbauten mit Ziegeln versorgte. Sie wurde im 19. Jahrhundert zur größten Ziegelfabrik Europas, rund 10.000 Menschen wurden dort beschäftigt.

Ganz Wien und darüber hinaus

Die Zugereisten aus dem heutigen Tschechien und der Slowakei könnten aus unklaren Gründen die besondere Aussprache des L geprägt haben, wobei sich die genaue Entwicklung heute kaum mehr nachvollziehen lässt. Im Gegensatz zu Favoriten trägt Meidling das L aber auch im Bezirksnamen, was sich besser zur Beschreibung des Phänomens eignet. Seitdem hat es sich vor allem in der Wiener Arbeiterschicht verbreitet, wurde von Kabarettisten zur Darstellung entsprechender Charaktere enthusiastisch aufgegriffen und landete für viele Wienerinnen und Wiener im üblichen Sprachgebrauch und Dialekt.

Meidlinger Buam
Hermann Leopoldi, selbst im heutigen Meidling geboren, singt über "waschechte Meidlinger Bua[m]".
Hermann Leopoldi - Topic

Über die Stadtgrenzen hinaus wurde das Meidlinger L mit den Sprechern und Sprecherinnen getragen, wo es das eine oder andere Mal zum Verständnis des Gesagten genaueres Hinhören erforderte. Auch in Fremdsprachen sorgte es für besondere Würze, wie Fußballlegende Hans Krankl in Spanien demonstrierte (Sekunde 35):

Hansi Krankl, pichichi de la Lliga 1978/1979
mesqueunclub1899

Doch kennt man das Meidlinger L heute noch gut, auch über Wien hinaus? Das will ein Team um Schallforscherin Eva Reinisch herausfinden und hofft auf eine entsprechend große und diverse Stichprobe. Per Onlineexperiment will man "die Geheimnisse des Meidlinger L" entschlüsseln, und weil es nicht um das Sprechen, sondern um das Hören geht, kann jede und jeder unter diesem Link teilnehmen.

Wahl zum besten Meidlinger L

Erfragt wird beispielsweise, wie man das Meidlinger L – sofern bekannt – beschreiben würde und von wem es gesprochen wird. In 36 Klangbeispielen wird gefragt, wie sehr der Laut nach Meidlinger L klingt. Denn dazu, wie die Aussprache "richtig" wäre, gibt es "sehr viele unterschiedliche Meinungen", wird Reinisch auf orf.at zitiert. Am Ende finden die Wissenschafterinnen und Wissenschafter damit jene Aussprachen heraus, die als besonders typisch wahrgenommen werden – quasi das beste Meidlinger L.

Fachsprachlich kann man das Phänomen übrigens als "lateral apikal-dentalen Konsonanten" charakterisieren. Laut Jan Luttenberger, der neben Eva Reinisch, Yaqian Huang und Stefan Dzever die Studie durchführt, gibt es drei Varianten des Meidlinger L:

Das lässt sich teilweise beim Nachsprechen oder etwa im Klangbeispiel auf Wikipedia nachvollziehen – von "leiwand" bis "Lavendel". Forschung dazu war bisher rar.

Immaterielles Erbe

Die Studie könnte auch helfen, einen etwaigen Sprachwandel darzustellen: Ist es allen Wienerinnen und Wienern bekannt, wie man landläufig annimmt? Dafür werden im Experiment Informationen zum Hintergrund der Teilnehmenden abgefragt: "Daten, ob das auf verschiedene Altersgruppen, sozioökonomische Gruppen, Leute mit einem anderen sprachlichen Hintergrund als Deutsch oder Zugezogene aus den Bundesländern auch zutrifft, fehlen jedoch. Unsere Studie soll diese Lücke schließen", sagt Reinisch in einer Aussendung der ÖAW. Die Akademie der Wissenschaften und die Stadt Wien finanzieren das einjährige Forschungsprojekt.

Für Reinisch ist klar: "Nur die Wiener:innen selbst können entscheiden, wie ein Meidlinger L zu klingen hat." Womöglich könnte es noch zum immateriellen Unesco-Kulturerbe werden, ein entsprechendes Ansuchen schrieb sich 2015 die Junge SPÖ Meidling auf die Fahnen. Im Zuge der Werte- und Identitätsdebatten wäre ein Wiederaufleben nicht ganz unwahrscheinlich. (sic, 10.4.2024)