Vor ein paar Wochen hat DER STANDARD unter die Lupe genommen, ob der Algorithmus von X möglicherweise Inhalte oder Accounts von bestimmter politischer Schlagseite bevorzugt. Denn das ist eine These, die insbesondere seit der Übernahme der einst Twitter genannten Plattform immer wieder einmal die Runde macht. Insbesondere User, die mit rechten bis rechtsextremen Inhalten nichts anfangen können, meldeten anekdotisch, vermehrt solche in die Timeline und Empfehlungen gespült zu bekommen. Das Experiment zeigte zumindest Indizien dafür, dass die Plattform an neue Nutzer zu den Schlagworten "Ukraine", "Russland", "Biden" und "Trump" eher Inhalte ausspielt, die jedenfalls der Haltung der US-Rechten entspricht, also eher prorussisch, ambivalent gegenüber der Ukraine, für Trump und vor allem aber gegen Joe Biden.

Doch wie sieht es mit anderen Plattformen aus? Immerhin könnte sich das Muster dort wiederholen, ganz ohne Einfluss des längst klar rechts positionierten Elon Musk. Zeit also für eine Gegenprobe. Und wo, wenn nicht bei der populären wie umstrittenen Videoplattform Tiktok.

In den vergangenen Monaten wurde dem Kurzvideoportal vorgeworfen, in Bezug auf die Situation im Gazastreifen Hamas-freundliche Inhalte zu befeuern. In den USA wiederum sorgt man sich über Parteigrenzen hinweg um Überwachung und Einflussnahme seitens Chinas, zumal Tiktok eine Tochter des chinesischen Bytedance-Konzerns ist. Und der könnte nach einem Gesetzesbeschluss bald vor der Wahl stehen, das Netzwerk entweder an US-Eigentümer zu verkaufen oder es zumindest in den USA stilllegen zu müssen. In Österreich gewinnt Tiktok ob des anlaufenden Wahlkampfs ebenfalls an politischer Brisanz.

Zum Thema "Ukraine" fanden sich viele, weitgehend unkommentierte Aufnahmen, die das Kriegsgeschehen zeigen sollen.
Screenshot/Tiktok

Anmeldung ohne Follow-Zwang

Auch hier ist einleitend festzuhalten: Es handelt sich um den Versuch, einen ersten Überblick zu gewinnen, und nicht um ein Experiment von wissenschaftlicher Qualität. Dementsprechend sind die Ergebnisse als Indizien zu betrachten.

Der Modus Operandi lehnt sich weitestmöglich an jenen des X-Experiments an. Eine Analyse der ersten 20 als "Top" angezeigten Videos zu den zuvor genannten Suchbegriffen an drei aufeinanderfolgenden Tagen soll zumindest erste Aufschlüsse bringen. Schon bei der Anmeldung ermöglicht die Plattform es einem recht gut, als für den Algorithmus "unbeschriebenes Blatt" zu starten. Im Prinzip muss man nur, so man keinen Social Login verwendet, einen Usernamen festlegen, ein Passwort wählen und eine Mobilnummer angeben. Dazu prüft ein kurzes Captcha, ob man ein Mensch ist.

Bei X gab es an dieser Stelle nicht nur 20 Puzzleaufgaben (möglicherweise aus Verdachtsgründen), sondern auch eine Pflichtauswahl von drei Interessenfeldern. Dazu muss man dort zum Start auch mindestens einem anderen Account folgen, wobei hier der erste eingespielte Vorschlag – Elon Musk – gewählt wurde. Das freilich könnte die Vorauswahl von Top-Postings seitens des Algorithmus beeinflusst haben.

Tiktok verlangt nichts dergleichen, es sind weder Interessen auszusuchen, noch muss man die Videos eines anderen Users abonnieren. Daher bleibt dem Algorithmus für die "Ersteinschätzung" kaum mehr als die österreichische IP-Adresse. Aber selbst die scheint keine Rolle zu spielen, denn auf der Startseite finden sich nach dem ersten Login keinerlei Videos mit erkennbar "regionalem" Bezug.

Vorgangsweise

Zur Beschau wurde Tiktok am Desktopbrowser jeweils im Inkognito-Modus aufgerufen, der auch schon bei der Anmeldung genutzt wurde. Jeweils um etwa dieselbe Uhrzeit (zehn bis zwölf Uhr) wurden an drei Tagen (8., 9. und 10. April) die jeweiligen Schlagwörter (Ukraine, Russland, Biden, Trump) in die Suche eingegeben und anschließend die ersten 20 von Tiktok als "Top" ausgewählten Videos und Beschreibungstexte angesehen. Der Name oder die bisher geteilten Videos des jeweiligen Kontos hingegen spielten keine Rolle. Der genutzte Account interagierte mit den Videos ausschließlich durch das Ansehen selbiger.

In einem gegen Joe Biden gerichteten Meme liefert sich der US-Präsident ein Dance-off mit Wladimir Putin und verrenkt sich dabei prompt den Rücken.
Screenshot/Tiktok

Die Clips wurden in die Kategorien "positiv", "neutral" und "negativ" eingeteilt. "Positiv" steht dabei für einen klar positiven Bezug zum Schlagwort, also etwa Lob für die ukrainische Armee oder Unterstützungsaufrufe, Lob für Putin oder positive Darstellungen Russlands, lobende Worte für Biden oder Trump bzw. Verweise auf gute Eigenschaften oder positive Errungenschaften selbiger oder Wahlaufrufe. Auch Kritik am oder Verächtlichmachung des jeweiligen Gegenübers fällt hier herein, beispielsweise ein gegen Biden gerichtetes Meme, das beim Suchbegriff "Trump" auftaucht.

"Negativ" beinhaltet Kritik an den beiden Ländern, ihren Armeen oder ihrer Politik bzw. Verächtlichmachungen des jeweiligen Gegenübers. Als "neutral" gelten reine Nachrichtenbeiträge, Videos von Kriegsszenen ohne expliziten Kommentar sowie Clips, die zwar unter dem Schlagwort auftauchen, mit dem Thema aber eigentlich gar nichts zu tun haben. Auch Videos mit möglicher, aber nicht deutlich ausgeprägter Schlagseite wurden hier einsortiert. Beschreibungstexte, die nicht in Deutsch oder Englisch verfasst waren, wurden zwecks Einordnung mit DeepL übersetzt.

Unter den "Trump"-Resultaten tauchten recht viele deklarierte Fan-Accounts auf.
Screenshot/Tiktok

Viele alte Clips

Was schon am ersten Tag auffiel, war, dass die "Top"-Videos zumindest bei einem jungfräulichen Account wenig Aktualitätsbezug haben. Viele der Clips zum Suchbegriff "Ukraine" stammten aus dem Jahr 2023, manche gar aus dem Februar und März 2022, als die russische Invasion gerade erst begonnen hatte. Inhaltlich tauchten überwiegend positive und neutrale Videos auf und gerade einmal ein als "negativ" wertbares Kurzvideo (zehn positiv, neun neutral, eines negativ). Thematisiert werden fast ausschließlich der Krieg und seine Folgen.

Für "Russland" sieht der Trend anders aus. Hier gibt es nur einen leichten "Positiv"-Überhang, mehr als die Hälfte der Beiträge fällt in die Kategorie "neutral" (fünf positiv, 13 neutral, zwei negativ). Der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine kommt nur am Rande vor. Dominierendes Thema ist der IS-Anschlag auf die Crocus-City-Konzerthalle und die Gefangennahme der mutmaßlichen Täter. Hier besteht auch, gemessen am Veröffentlichungsdatum der Videos, der stärkste Aktualitätsbezug. Die anderen Clips befassen sich mit mehr oder weniger korrekten "Fakten" über Russland, Lob oder Kritik an Präsident Wladimir Putin oder zeigen scheinbar touristisch motivierte Werbung mit Bildern aus Moskau. Sie wurden teilweise auch schon vor zwei Jahren hochgeladen.

Eher zufällig ausgewählte Fakten, der IS-Anschlag und Städtewerbung dominierten die "Russland"-Ergebnisse.
Screenshot/Tiktok

Wenig Liebe für Joe Biden

Einen klar negativen Überhang gibt es bei Beiträgen über den amtierenden US-Präsidenten Joe Biden, auch wenn dieser nicht so extrem ist, wie er auf X beobachtet werden konnte. Die thematische Ähnlichkeit ist aber definitiv gegeben. Den größten Teil machen Aufnahmen von Versprechern, Stürzen und Interaktionen mit Kindern des Demokraten aus. Zwei Videos insinuieren, Biden wäre entweder ein humanoider Roboter oder eine andere Person mit täuschend echter Maske. Die zeitliche Streuung ist recht groß. Die neutralen Clips sind meist einigermaßen aktuell und zeigen unter anderem Reden des Präsidenten oder Nachrichten, häufig mit Bezug zur Situation im Gazastreifen. Positive Clips zeigen Reden von Biden, den Politiker bei einem wohlwollenden Interview in einem E-Auto und auch einen Clip seines offiziellen Kampagnenaccounts (Biden-Harris HQ). Gesamtbilanz von Tag eins: vier positive, acht neutrale, acht negative Videos.

Für Trump fällt das Ergebnis in etwa umgedreht aus. Mehrheitlich positive Beiträge stehen einem kleinen Block neutraler sowie einem Trio negativer Clips gegenüber. In jenen ohne klarer Schlagseite geht es zumeist um Nachrichten mit Bezug auf die laufenden Gerichtsverfahren gegen den Ex-Präsidenten. Die sind auch Thema bei den kritischen Videos, dazu kommt außerdem ein Clip, der zeigt, dass die Menschenmenge bei einem Wahlkampfauftritt Trumps doch gar nicht so groß war, wie dieser behauptete. Auf der Positiv-Seite sind Lobhudeleien verschiedenster Art (reichend von Trumps Tanzstil über Situationen, die seine Volksnähe demonstrieren sollen, bis hin zur Glorifizierung frauenfeindlicher Aussagen) und Wahlempfehlungen. Viele der Clips sind älter als einen Monat oder gar aus dem Jahr 2023 und stammen von deklarierten Pro-Trump-Accounts (elf positive, sechs neutrale, drei negative).

Unter den eher bizarren Top-Videos waren auch solche, die insinuierten, dass Joe Biden gar nicht echt, sondern ein Mann mit Maske sei.
Screenshot/Tiktok

Wie auch schon bei X änderten sich diese Trends im Großen und Ganzen über die zwei Folgetage nicht stark. Tag drei brachte für die Themen "Ukraine" und "Trump" eine Abschwächung der Positiv-Tendenz hin zu mehr "neutralen" Videos. Für "Biden" hingegen tauchten bei der letzten Erhebung mehr negative Videos zuungunsten der "neutralen" Beiträge auf. Die insgesamt geringen Änderungen sind auch darauf zurückzuführen, dass in den Top 20 erstaunlich wenig Bewegung erfolgte. Üblicherweise waren bei jedem Suchbegriff jeweils 15 oder mehr Clips zu finden, die bereits am Vortag in der Empfehlungliste waren.

Viel "News-Trash"

Während eine Qualitätseinschätzung für Inhalte mit klarer Schlagseite schwer objektiv vornehmbar ist, lässt sich für die Kategorie "neutral" sehr wohl eine Beobachtung vornehmen, nämlich in Bezug auf Nachrichtenberichterstattung. Mehrheitlich bestanden diese nämlich nicht aus Beiträgen von Accounts bekannterer Medien, sondern nutzten deren Material in teils miserabler Bildqualität, um die Nachrichten mit eigener Stimme oder einer Computerstimme ohne Informationsmehrwert nachzuerzählen. Im Gegenteil: Mitunter schlichen sich hier sogar faktische Fehler (wenn auch solche ohne plausiblen Desinformationsverdacht) ein.

Ein deutscher Tiktok-Creator sprach beispielsweise davon, der IS-Anschlag in Moskau habe in einem Einkaufszentrum stattgefunden, obwohl es sich bei der Crocus City Hall um eine Veranstaltungshalle handelt. Es handelt sich offensichtlich um View- und Engagementfarming mit geringem Aufwand und dementsprechend erschreckend schlechter Qualität. Das spricht stark dafür, dass man sich eher nicht auf Tiktok verlassen sollte, wenn man sich gut über aktuelle Themen informieren möchte.

Zu den Suchbegriffen "Ukraine" und "Russland" wurde fast immer auch ein Hinweis angezeigt, dass in Bezug auf den Krieg in der Ukraine "ein Risiko von Fehlinformationen und Desinformation" besteht. Der dazugehörige Link führt auf eine Seite, auf der eine Zusammenarbeit von Tiktok mit den Faktencheckern von Correctiv angeführt wird. Dabei werden auch Tipps in Video- und Textform gegeben, wie man Falschnachrichten erkennen kann. In welchem Umfang die dort ebenfalls beworbene Prüfung der "Richtigkeit der Inhalte auf unserer Plattform" erfolgt, ließ sich anhand des Experiments nicht abschätzen. Tatsächlich tauchte in den Top-20-Empfehlungen an allen drei Tagen kein klarer Fall von Desinformation oder Fake News in direktem Bezug zum Krieg auf.

Die Gesamtbilanz der Tiktok-Untersuchung.
DER STANDARD/Pichler

Fazit

Welche Bilanz lässt sich nach drei Tagen mit einem frischen Account auf Tiktok ziehen? Die algorithmisch überlieferte "Stimmung" gegenüber der Ukraine ist hier merklich besser, und es gibt auch keinen starken prorussischen Überhang. Biden kommt in der Top-20-Auswahl insgesamt längst nicht so schlecht weg, sein Suchbegriff wird aber dennoch von großteils "negativen" Videos untermalt. Trump hat einen klar positiven Überhang, die Gesamtauswahl erscheint aber deutlich weniger polarisierend zu sein. Sowohl "negative" als auch "positive" Videos reduzieren sich im Vergleich zu X zugunsten der "neutralen" Clips.

Polarisierung ist hier überhaupt ein gutes Stichwort. Von 240 im X-Experiment gesichteten Postings waren lediglich 41 (17 Prozent) als "neutral" einstufbar. Der Rest entfiel auf "positive" und "negative" Beiträge, einzig hinsichtlich des Begriffs "Ukraine" zeigte sich eine gewisse Tendenz zur "Mitte". Bei Tiktok hingegen transportierten 105 (44 Prozent) keine bzw. keine klar erkennbare Schlagseite zu einem Thema. Während der Empfehlungsalgorithmus von Ex-Twitter polarisierende Inhalte (mit im Experiment deutlich rechter Ausprägung) stark zu bevorzugen scheint, dürfte jener von Tiktok hier doch merkbar anders kalibriert sein.

Gerade beim Begriffspaar Biden-Trump zeigt sich auch eine Tendenz nach rechts, allerdings weniger stark. Das könnte das Ergebnis von Manipulation sein, allerdings fehlt eine griffige kausale Grundlage für diese Annahme. Trump vertritt ebenfalls einen harten Kurs gegenüber China und hatte ursprünglich auch den Handelskrieg gegen das Land begonnen. Und auch in seiner Regierungszeit hatte man bereits versucht, einen Verkauf von Tiktok an US-Eigner durchzusetzen. Dementsprechend könnte die Verteilung der Empfehlungen – trotz gerade wieder steigender Umfragetrends für Biden – einerseits teilweise die Stimmung in den USA reflektieren und andererseits auch dafür sprechen, dass man auf republikanischer Seite das Netzwerk geschickter zu nutzen versteht als bei den Unterstützern der Demokraten. Diese These ist auch im Rennen, wenn es um Österreich und Deutschland geht, wo die FPÖ und AfD ebenfalls recht erfolgreich auf Social Media unterwegs sind. (gpi, 13.4.2023)