Wahlurne mit polnischem Wappen in einem Turnsaal, dahinter ein Fußballtor.
An den Wahlurnen wurde die PiS geschlagen. Der neuen Regierung steht sie aber beim Zug zum Tor weiterhin im Weg.
IMAGO/Jan Graczynski

Die Parlamentswahl vor einem halben Jahr brachte in Polen einen Kurswechsel: Die frühere nationalkonservative Regierungspartei Recht und Gerechtigkeit (PiS) blieb zwar stärkste Kraft, wurde aber von einem Bündnis aus Liberalen, Konservativen und Linken entmachtet. Nun regiert die Koalition des ehemaligen EU-Ratspräsidenten Donald Tusk. Die Transformation aber erweist sich als Herkulesaufgabe in stürmischen Zeiten, wie auch Marek Prawda beschreibt.

STANDARD: Zwanzig Jahre nach Polens EU-Beitritt steht die neue Regierung zwar für bessere Beziehungen zu Brüssel, gleichzeitig befindet sich die EU selbst durch den russischen Angriffskrieg in der Ukraine in einer Phase der Neuorientierung. In welcher Rolle sehen Sie Polen heute?

Prawda: In Polen hat sich gezeigt, dass man sich einer populistischen Welle widersetzen kann. Premier Donald Tusk erzählt also eine optimistische Geschichte in pessimistischen Zeiten. Wir spüren das Interesse, das es nun an uns gibt, die Erwartung, dass wir frischen "Sauerstoff" nach Brüssel pumpen. Zwanzig Jahre nach dem EU-Beitritt sind wir aber nicht in der Stimmung, groß zu feiern. Wir sehen uns eher in der Pflicht, gute Antworten auf die Fragen der Gegenwart zu finden und die Veränderungen in Europa mitzugestalten.

STANDARD: Polen zählt zu den wichtigsten Unterstützern der Ukraine. Haben sich durch den Krieg die Gewichte in der EU Richtung Osten verlagert? Wird Ostmitteleuropa jetzt mehr gehört?

Prawda: Ja, ich würde das als Veröstlichung der Europäischen Union bezeichnen. Wenn wir in Europa der Herausforderung durch Putin gewachsen sein wollen, dann brauchen wir die östliche Expertise. Das wird tiefe Konsequenzen haben für die weitere Entwicklung der EU. Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen hat in ihrer Rede zur Lage der Union schon vor zwei Jahren gesagt, dass man die Stimme der östlichen Mitglieder hätte mehr berücksichtigen sollen. Die Union hat sich also dazu entschlossen, "östlicher" zu werden.

STANDARD: Was bedeutet das konkret?

Prawda: Es bedeutet, dass die östliche Komponente zu einem Teil der europäischen Identität wird. Der Westen hat jetzt nicht mehr den Luxus, im Sessel zu sitzen und darauf zu warten, dass wir im Osten bestimmte Benchmarks erfüllen, bis wir so "reif" sind wie der Westen und die Welt in Ordnung ist.

Marek Prawda zu Besuch in Wien.
Marek Prawda, hier vergangene Woche zu Besuch in Wien, sieht aktuell eine "Veröstlichung" der EU.
Gerald Schubert

STANDARD: Bei der Wahl vor einem halben Jahr wurde in Polen ein Machtwechsel eingeleitet. Die Transformation nach acht Jahren PiS-Regierung gestaltet sich aber schwierig. Viele sagen, die PiS habe ein rechtliches Minenfeld hinterlassen, andere werfen der Regierung Tusk vor, nun selbst juristisch zu tricksen. Wie sehen Sie das?

Prawda: Acht Jahre lang gab es eine Erosion der Rechtsstaatlichkeit. Die Behörden haben nun die Pflicht, den Rechtsstaat wiederherzustellen. Dabei dürfen sie jedoch nicht in die verfassungsrechtlichen Fallen tappen, die die Vorgängerregierung ihnen gestellt hat. Das heißt, sie müssen tun, was möglich ist, ohne dabei selbst das Recht zu verletzen. Man kann aber auch nicht einfach alles durch neue Gesetze ändern, weil Staatspräsident Andrzej Duda Blockaden angekündigt hat. In Polen gibt es also eine gesetzliche Gesetzlosigkeit, und damit muss man fertigwerden.

STANDARD: Wie kann das gelingen?

Prawda: Nehmen wir als Beispiel das politisierte staatliche Fernsehen: Die Wähler hätten es nicht verstanden, wenn die antideutsche und antieuropäische Propaganda dort tagtäglich fortgesetzt worden wäre. Also nutzte man den Umstand, dass der Präsident Gelder für das im Entstehen begriffene neue Fernsehen verweigert hat, und löste den Sender formal auf. Es wird natürlich weiter gesendet, aber die Auflösung liefert die Grundlage für personelle Wechsel. Man ergriff also eine Maßnahme zweiter Wahl. Die erste Wahl wäre stets ein neues Gesetz, doch das ist eben oft nicht möglich. Darin besteht die Quadratur des Kreises. Aber ich wehre mich vehement dagegen, das als Trick zu bezeichnen. Es ist kein Trick. Das behaupten nur die Vertreter der illiberalen Demokratie in Europa.

STANDARD: Auch rund um das Verfassungsgericht gibt es Streit: Drei Verfassungsrichter wurden laut der jetzigen Regierung nicht legal bestellt. Zudem hat Polens Verfassungsgericht sich selbst beschieden, über dem Europäischen Gerichtshof (EuGH) zu stehen. Wie stellt sich die Situation heute dar?

Prawda: Das Parlament hat einen Beschluss gefasst und die illegal gewählten "Zweitrichter" aufgefordert, zu gehen. Das wird zwar keine direkten Folgen haben, aber es bestätigt die niedrige Legitimität des jetzigen Verfassungsgerichts. Und was die Entscheidung über das Verhältnis zum EuGH betrifft: Das läuft auf eine Aufkündigung der Gemeinschaft hinaus. Die EU beruht ja darauf, dass man den Tisch nicht umstößt, sondern dass man Lösungen sucht. Und der EuGH gehört zu den Fundamenten dieser Gemeinschaft.

STANDARD: Die Koalition von Premier Tusk ist bunt und sehr breit gefächert. Man sieht das derzeit auch bei den Debatten über eine Liberalisierung des restriktiven Abtreibungsrechts. Kann das für die Regierung zum Problem werden?

Prawda: Die Koalitionspartner sind für die Liberalisierung des Abtreibungsrechts. Es gibt aber unterschiedliche Sensibilitäten und Herangehensweisen, etwa in der Frage eines Referendums. Es ist der Charme der Koalition, dass sie bunt ist, sie spricht unterschiedliche Gruppen an. Das heißt aber auch, dass immer jemand unzufrieden bleibt. Polens Gesellschaft ist stark polarisiert. Wir haben immer gesagt, man soll die Menschen nicht mit zweitrangigen oder allzu progressiven Anliegen überfordern, damit wir sie nicht für die wichtigsten Fragen verlieren. Ich sage das auch heute noch. Aber manche Fragen, die wir für zweitrangig hielten, werden langsam zu erstrangigen. Und die Politik muss höllisch aufpassen, dass sie das nicht verschläft. (Gerald Schubert, 15.4.2024)