Anhänger der nationalkonservativen PiS bei einer Demonstration gegen die neue liberale Regierung.
Anhänger der nationalkonservativen PiS bei einer Demonstration gegen die neue liberale Regierung. Beide Seiten beanspruchen das Erbe der antikommunistischen Solidarność für sich.
AFP/WOJTEK RADWANSKI

Im Oktober wurde in Polen die rechtspopulistische Partei Recht und Gerechtigkeit (PiS) nach acht Jahren abgewählt. Seit Dezember regiert nun die Koalition des liberalen und EU-freundlichen Premierministers Donald Tusk. Doch der Umschwung gestaltet sich turbulent. Viele Bereiche im Staat, allen voran Justiz und öffentlich-rechtliche Medien, wurden von der PiS so weit unter Kontrolle gebracht, dass ein geordneter und von der Bevölkerung nachvollziehbarer Übergang kaum möglich erscheint. Für die Atmosphäre in der Gesellschaft bleibt das nicht ohne Folgen.

STANDARD: Der Machtwechsel in Polen war nach der Wahl langwierig und kompliziert, aber auch mit der Ernennung der neuen Regierung trat keine Beruhigung ein. Was ist Ihre erste Diagnose?

Wigura: In Polen wird gerade versucht, die Rechtsstaatlichkeit wiederaufzubauen. Die juristischen Fragen sind aber sehr kompliziert, nur wenige kennen sich damit gut aus. Es ist nicht leicht, am Ball zu bleiben. Und wenn den Menschen alles zu viel wird und zu schnell geht, dann kann die anfängliche Begeisterung wieder nachlassen. Das kann ernsthafte Konsequenzen haben, auch für die Europa- und die Lokalwahlen, die 2024 bevorstehen. Als Donald Tusk mit seiner demokratischen Koalition im vergangenen Oktober die Wahl gewonnen hat, haben ja auch im Ausland viele gesagt, Polen ist "zurück". Doch die beschädigte Demokratie wurde nicht über Nacht geheilt. Tusk hat ein Land mit vielen Defekten geerbt. Die populistische Anti-System-Partei PiS ist in den letzten zwei Dekaden zu einem strukturellen Teil der politischen Landschaft Polens geworden. Wir müssen lernen, mit dieser Partei weiterzuleben und trotzdem zur Heilung beizutragen.

STANDARD: Was muss Tusk dafür tun?

Wigura: Er muss liefern. Rechtsstaatlichkeit und öffentlich-rechtliche Medien müssen wiederaufgebaut werden. Aber Tusk darf nicht vergessen, dass er auch andere Versprechen gegeben hat, etwa Reformen im Schul- und Gesundheitssystem. Das ist deshalb so wichtig, weil die Rechtsstaatlichkeitsdebatte eben nicht leicht zu verstehen ist, eine bessere Schule oder ein besseres Krankenhaus aber schon.

STANDARD: Auch von PiS-Gegnern hört man den Vorwurf, dass die jüngsten Reformen zu überhastet und zu radikal sind. Ist da etwas dran?

Wigura: Polen ist ein rechtliches Minenfeld, etwa im Bereich des Verfassungsgerichts oder der öffentlich-rechtlichen Medien. Gleich nach der Wahl dachten viele Nichtjuristen, dass man die Minen einfach entschärfen kann. Aber jetzt stehen, wie es der politische Analyst Jarosław Kuisz beschrieben hat, rund um jede Mine mehrere Fachleute, die alle etwas anderes sagen: Einer sagt, man soll sie entfernen, ein anderer, man soll sie zur Explosion bringen, ein dritter erklärt, wie man sie vielleicht doch entschärfen könnte. Da muss man manchmal notwendige politische Entscheidungen treffen, die nicht allen gefallen. Aber es gibt noch eine weitere Ebene, nämlich den politischen Stil. Und der sieht wirklich nicht gut aus.

STANDARD: Inwiefern?

Wigura: Es ist der Stil einer neuen politischen Revolution. Tusk ist mit dem Versprechen an die Macht gekommen, die populistische Revolution der PiS zu beenden. Dass nun scheinbar wieder eine Revolution im Gange ist, ist für viele Menschen eine Quelle der Enttäuschung.

STANDARD: Kann Tusk etwas besser machen? Oder hat er einfach keine andere Chance?

Wigura: Tusk steht tatsächlich vor einer riesigen Herausforderung, es gibt mehr Minen als erwartet. Was man aber jetzt schon sagen kann: Es wird zu wenig nachgedacht. Die Regierung kämpft zwar, aber sie zieht zu wenige Fachleute zurate, die gute und klar kommunizierbare Strategien vorbereiten könnten.

STANDARD: Wie reagiert die Gesellschaft auf die hektische Entwicklung?

Wigura: Wenn man die Umfragen liest, die sich mit der Beurteilung der neuesten Regierungspolitik beschäftigen, dann sieht man, dass die Enttäuschung in der Gesellschaft wächst. Viele Menschen, die eigentlich für Tusk sind, sagen dort, dass sie nicht nur eine demokratische Essenz wollen, sondern dass auch die Form besser sein sollte. Man müsse klarer sehen können, dass nur eine Seite, nämlich die PiS, radikalisiert ist und nicht beide Seiten. In vielen Medien wird aber die Hoffnung geäußert, dass das alles nur eine vorübergehende Phase ist und nicht zur Normalität wird.

STANDARD: Vielleicht ist die Enttäuschung nur deshalb so groß, weil vorher die Hoffnung so groß war. Welche Emotion ist derzeit stärker?

Wigura: Das wäre schwierig zu messen, solche Emotionen sind nicht sehr langlebig. Vor der Wahl war die Hoffnung auf einen Sieg Tusks gering, die damalige Opposition sah sich in die Ecke gedrängt. Nach der Wahl gab es dann einen richtigen Ausbruch der Hoffnung, auch international. Das Magazin Politico hat Tusk sogar zur einflussreichsten Person Europas gekürt. Das sagt viel darüber aus, wie hoffnungslos sich die demokratischen Kräfte überall auf der Welt fühlen. Wir sollten die Situation daher mit viel mehr Nüchternheit bewerten.

STANDARD: Die PiS beruft sich nun auf die Verfassung und das – von ihr eingefärbte – Verfassungsgericht. Die Einhaltung der Verfassung wurde aber auch von der früheren Opposition gefordert. Wie passt das zusammen?

Wigura: Die PiS wiederholt die Sprache der Rechtsstaatlichkeit, die von der früheren Opposition benutzt wurde. Das ist eine bewusste Strategie. Sie soll Zweifel an der neuen Regierung säen und den Sieg der demokratischen Opposition gegen den Populismus neutralisieren. So, als wäre letztlich alles ohnehin dasselbe. Die Enttäuschung, über die wir gesprochen haben, ist zum Teil das Ergebnis dieser Strategie. Infolgedessen haben wir ein semantisches Chaos in der Debatte, und genau das ist von der PiS auch gewollt. Populismus ist Chaos.

STANDARD: Ähnliches geschieht mit politischen Symbolen. Auf Antiregierungsdemos zeigen PiS-Anhänger Transparente, die mit dem Schriftzug der Gewerkschaft Solidarność spielen, die einst gegen die kommunistische Diktatur aufgestanden ist und in der auch Tusk aktiv war. Gehört das ebenfalls zu dieser Taktik?

Wigura: Das Thema spielt eine fundamentale Rolle, aber für die gesamte politische Konstellation in Polen. Die Solidarność war kein Monolith, sie war einfach antikommunistisch. Dort waren bereits all die Strömungen vertreten, die später in der Politik miteinander konkurriert haben. Es gibt eine schöne soziologische Beschreibung für Polens Entwicklung nach 1989: In den ersten zehn bis fünfzehn Jahren war die Politik geprägt von der postkommunistischen Spaltung, also zwischen Solidarność und den Postkommunisten. Heute aber haben wir die postsolidarische Spaltung, konkret jene zwischen der liberalen Bürgerkoalition und der PiS. Auf der einen Seite haben wir die gesellschaftliche Software von liberaler Demokratie, Europa, offener Welt und Freiheit, auf der anderen die von Isolation und Nationalismus. Also wir gegen Deutschland, gegen Brüssel, gegen Moskau – als ob das alles dasselbe wäre. Wir gegen den Rest der Welt. Beides hat sehr alte Wurzeln, beides bildet auch heute die Seele der Spaltung. Und beides greift dabei auf dieselben Symbole zurück. (Interview: Gerald Schubert, 29.1.2024)

Karolina Wigura.
Die abgewählte PiS sät bewusst Zweifel, glaubt Karolina Wigura – und plädiert für Nüchternheit.
Wigura