Frau mit Latexmütze und Handschuhen
Ledermaske, Knebel, Peitsche: Die SM-Szene gilt noch immer als bizarr, doch Mitglieder beschreiben das, was sie dort erleben, oft als besonders intim und vertrauensvoll.
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Sex mit mehreren Personen gleichzeitig, Erregung bei der Idee, gefesselt zu werden: Der US-amerikanische Psychologe Justin Lehmiller hat mehr als 4000 Menschen über deren erotischen Vorstellungen befragt. Es war die bisher größte Studie über sexuelle Fantasien in den USA. Das Ergebnis: Etwa 97 Prozent aller Menschen haben hin und wieder Sexfantasien. Die meisten träumen von Gruppensex. Andere davon, gefesselt oder ausgepeitscht zu werden. Manche stellen sich vor, wie ihr Nachbar plötzlich vor der Tür steht und sie miteinander Sex haben. Was Menschen an sexuellen Fantasien haben oder auch nicht, ist unglaublich vielfältig.

Spannend ist, dass Menschen unterschiedlichen Geschlechts und sexueller Orientierung oftmals über sehr ähnliche Dinge fantasieren. Das kann bei der Masturbation oder beim Sex passieren – oder auch spontan untertags. Auch wenn das völlig normal ist, empfinden es manche Menschen als irritierend oder verstörend, was sie erregt. Vor allem dann, wenn es sich um Gedanken handelt, die sie in der Realität ablehnen.

Denn die Studie zeigt auch: Frauen haben im Durchschnitt mehr BDSM-Fantasien als Männer – und das in fast allen Ausprägungen. BDSM, das ist eine Abkürzung für Bondage and Discipline, Dominance and Submission, Sadism and Masochism und damit ein Sammelbegriff für sexuelle Präferenzen, bei denen ein Machtgefälle eine Rolle spielt. Laut Studie hat etwa jede dritte Frau beim Sex schon einmal diesbezügliche Fantasien entwickelt.

DER STANDARD hat Sexual- und Psychotherapeutinnen gefragt, warum auch Frauen häufig Unterwerfungsfantasien haben. Nur eine wollte mit uns darüber sprechen, die anderen haben abgelehnt. Das Thema sei extrem heikel, eine Gratwanderung. In einer Zeit, in der vieles bewusst missverstanden wird, wolle man nicht den Eindruck erwecken, sexuelle Gewaltfantasien seien etwas, was sich Frauen in der Realität wünschten. Es sei ein Tabu – selbst wenn es nur darum gehe, über Fantasien zu sprechen.

Wichtig sei es dennoch, denn sexuelle Fantasien können verunsichern oder ängstigen, sagt Monika Wogrolly. Sie ist Psychotherapeutin mit eigener Praxis in Wien und Graz und arbeitet in einer psychiatrischen Rehaklinik: "Wenn Frauen Unterwerfungs- oder Vergewaltigungsfantasien haben, hat das nichts mit realen Wünschen zu tun."

STANDARD: Frau Wogrolly, fast jeder Mensch hat sexuelle Fantasien. Manchmal sind diese Fantasien aber gar nicht das, was wir ausleben wollen, sondern verstörend. Warum haben wir sie dennoch?

Wogrolly: Der Mensch ist sehr vielschichtig. Neben der gelebten Dimension unseres Daseins gibt es auch Dinge, die wir verdrängen oder unterbinden. Dinge, die wir vor uns selbst geheim halten. Das kann man sich vorstellen wie eine eigene, innere Zensur. Schließlich sind wir an soziale Normen angepasst, die das Ausleben gewisser sexueller Wünsche oder Sehnsüchte tabuisieren.

STANDARD: Die Bücherreihe Shades of Grey der britischen Autorin E. L. James hat sich weltweit millionenfach verkauft. Auch der Kinofilm erreichte Umsatzrekorde. Darin geht es um BDSM-Praktiken. Was fasziniert die Menschen so sehr daran?

Wogrolly: Dieses Beispiel zeigt sehr gut, wie gesellschaftliche Tabus unsere sexuellen Fantasien beeinflussen. Sadomaso oder BDSM ist mit den Büchern und dem Film weitgehend enttabuisiert worden. Sexpraktiken, die man früher als "abartig" oder "pervers" bezeichnet hätte, wurden damit gesellschaftsfähig. Die Menschen fasziniert dabei wohl am meisten, dass BDSM auf spielerische Art ermöglicht, jemandem die Kontrolle zu übergeben. Wenn es in einem sicheren Setting passiert, kann man sich total fallenlassen. Das ist in unserem hektischen Leben kaum möglich. Also scheint die Fantasie sehr erleichternd zu sein.

STANDARD: Liegen hinter sexuellen Fantasien verdrängte Wünsche?

Wogrolly: Sigmund Freud hat gesagt "Der Traum ist der Königsweg zum Unbewussten". Ich würde sagen, sexuelle Fantasien sind der Königsweg zum Verdrängten. Oft spiegeln sie eine abgespaltene Seite von uns, die wir verdrängen wollen.

STANDAD: Warum wollen wir das?

Wogrolly: Weil diese Seite vielleicht nicht nur nett und angepasst ist. Weil sie vielleicht aggressiv und wütend ist. Eine Seite, die gesellschaftlich nicht so akzeptiert ist. Wenn wir Aspekte unserer Persönlichkeit, Wünsche und Bedürfnisse dauerhaft abspalten, führt dies allerdings zu Druck oder Frustration. Dieser innerlich aufgestaute Druck kann sich etwa in erhöhter Reizbarkeit niederschlagen, sich aber auch auf konstruktive Art durch Mitfiebern am Sportplatz oder eben durch sexuelle Fantasien Luft machen.

STANDARD: Eine amerikanische Befragung legt nahe, dass mehr als die Hälfte hin und wieder Unterwerfungs- und Vergewaltigungsfantasien haben. Woher kommt das?

Wogrolly: Solche Fantasien können eine Art Ventil darstellen, um den durch ständige Anspannung entstandenen Stress abzubauen, eine schleichend aufgebaute innere Anspannung zu reduzieren. Betroffene sollten das zum Anlass nehmen, um vom Funktions- in den Daseinsmodus zu wechseln. Und sich einfach wieder mehr Freiräume und Qualitätszeit im Leben zu erlauben, anstatt nur zu funktionieren.

"Wer ständig die Kontrolle behalten muss, hat irgendwann auch das Bedürfnis wieder Kontrolle abzugeben. Das kann sich in einer Unterwerfungsfantasie äußern." – Monika Wogrolly, Literatin, Philosophin und Psychotherpeutin

STANDARD: Die Umfragen ergaben, dass Frauen sogar häufiger Unterwerfungsfantasien haben als Männer. Hat das mit den patriarchalen Strukturen zu tun, in denen wir leben?

Wogrolly: Das muss nicht sein.

STANDARD: Warum nicht?

Wogrolly: In meinem Alltag erlebe ich häufig, dass ausgerechnet die emanzipierten, selbstbestimmten und beruflich erfolgreichen Personen mithin Gewaltfantasien haben. Das zeigen auch Umfragen. Das ist ähnlich wie bei der Faszination für BDSM: Wer ständig die Kontrolle behalten muss, hat irgendwann auch das Bedürfnis wieder Kontrolle abzugeben. Das kann sich in einer Unterwerfungsfantasie äußern. Auch das Gefühl, einmal in eine ganz neue Rolle zu schlüpfen oder etwas Ungewöhnliches zu machen, kann hier für Entspannung sorgen.

Monika Wogrolly
Prof. Mag. Dr. Monika Wogrolly arbeitet als Autorin, Philosophin und Psychotherapeutin in Graz, Wien und online sowie in einer psychiatrischen Rehabilitationsklinik. Sie ist Kolumnistin beim Magazin "News", TV-Beziehungsexpertin im ORF und hält Vorträge und Seminare. Info: www.wogrollymonika.at
Matthias Obergruber

STANDARD: Eine Wiener Domina hat in einem Interview Ähnliches erzählt. Sie sagte, dass häufig Männer zu ihr kommen und gefesselt und gequält werden möchten, die sonst im Alltag über andere bestimmen. Oft sind das Vorgesetzte oder Manager.

Wogrolly: Wenn man permanent unter einem Verantwortungs- und Erwartungsdruck steht, kann der Besuch einer Domina ein Gegenprogramm darstellen. Hier können sexuelle Fantasien in einem definierten Rahmen ausgelebt werden. Dennoch gibt es genauso alltagsdominante Menschen, die auch beim Sex die bestimmende Rolle einnehmen.

STANDARD: Sexuelle Fantasien nach Dominanz und Unterwerfung müssen also keine tiefenpsychologischen Ursachen haben. Manche denken wahrscheinlich dennoch, dass mit ihnen etwas nicht stimmt.

Wogrolly: Sexuelle Fantasien können irritierend sein. Diese Verunsicherung erlebe ich auch im Alltag als Philosophin und Therapeutin. Ich hatte auch schon Klienten, die heterosexuell leben, sich aber gerne Schwulenpornos anschauen. Die kommen dann zu mir und fragen sich, ob sie vielleicht ihre eigene Homosexualität unterdrücken. Das ist natürlich nicht notwendigerweise so.

Wer herausfindet, was die eigenen sexuellen Fantasien bedeuten, kann Bedürfnisse und Wünsche artikulieren und somit auch Ängste überwinden.
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STANDARD: Dennoch gibt es eine Studie der Hochschule Berlin aus dem Jahr 2021, die zeigt, dass aggressive sexuelle Fantasien ein Risikofaktor dafür sind, anderen tatsächlich sexuelle Gewalt anzutun.

Wogrolly: Das kann ich mir gut vorstellen. Mir wurde schon öfter die Frage gestellt, ob es schlimm ist, wenn man seine Gewaltfantasien an einer Sexpuppe auslebt. Oder ob diese nicht sogar verhindert, dass jemand mit Gewaltfantasien tatsächlich zum Sexualstraftäter wird. Ich bin absolut überzeugt, dass ein Mensch eine natürliche Hemmschwelle abbaut, wenn er Gewaltfantasien an einer Sexpuppe auslebt, was riskant und gefährlich ist wie jeder Verrohungseffekt. Analog halte ich einen Abstumpfungseffekt bei aggressiven sexuellen Fantasien für wahrscheinlich. Wenn jemand nur noch Lust empfinden kann beim Anblick sexueller Gewalt, entstehen eine Art Gewöhnungseffekt, eine Verrohung und womöglich die Lust nach Steigerung wie bei jedem Suchtverhalten. Der Zuseher benötigt dann immer ärgere Szenen, wird immer enthemmter, und es ist fraglich, ob er beim Sex mit einer realen Person dann noch über eine gesunde Impulskontrolle verfügt.

STANDARD: Sollte man mit dem Partner oder der Partnerin über die eigenen sexuellen Fantasien sprechen?

Wogrolly: Für manche Partnerschaften kann das erotisierend oder stimulierend sein. Schon allein darüber zu sprechen kann die Beziehung bereichern. Das ist aber nicht immer der Fall. Es kann durchaus passieren, dass gewisse sexuelle Fantasien für einen Partner oder eine Partnerin befremdlich sind, und er oder sie sich davon abgestoßen fühlt. Dieses Gefühl kann auch Zweifel und Selbstzweifel erzeugen. Nach dem Motto "Bin ich nicht gut genug?". Im Worst Case fühlt man sich überfordert und abgestoßen von dem, was die andere Person fantasiert. Das kann die Beziehung auch nachhaltig belasten.

STANDARD: Was wäre ein guter Weg?

Wogrolly: Indem man sensibel damit umgeht. Man sollte zuerst schauen, ob der Partner oder die Partnerin überhaupt bereit ist von den sexuellen Fantasien zu erfahren. Und sich dann achtsam und einfühlsam öffnen und nicht gleich das volle Programm. Wahrnehmen, wie mein Gegenüber reagiert. Nachfragen, ob er oder sie vielleicht auch sexuelle Fantasien hat, die einen bereichern und einander noch näher bringen können.

STANDARD: Auf der Pornowebsite Pornhub wurden im Jahr 2023 am häufigsten die Begriffe "Hentai" (pornografische Manga und Anime), "Milf" (Sex mit Müttern) und "Lesbian" (lesbisch) gesucht. Etwa zwei Drittel der User sind männlich. Was fasziniert Männer so sehr an diesen drei Kategorien?

Wogrolly: Die pornografischen Zeichnungen aus Japan sind offenbar gefragter denn je. Das hat aus meiner Sicht zwei Gründe: Zum einen werden bei Hentai Grenzen des Möglichen überschritten. Man richtet in den pornografischen Darstellungen die Aufmerksamkeit auf keine realen Menschen, sondern Objekte, zu denen keine wirkliche Bindung und Abhängigkeit entsteht. Damit ist man in den sexuellen Handlungen auch angstbefreit und läuft nicht Gefahr, die eigene Autonomie zu verlieren. Zum anderen werden im Hentai Handlungen gezeigt, die gesellschaftlich als pervers oder abnormal gelten. Das regt auf. Wenn etwa eine animierte Person Sex mit einem Alien hat, das acht Tentakel besitzt, dann führt das beim Zuseher neurologisch zu Aufregung, die sich in Erregung transformieren kann.

STANDARD: Und was ist an Sex mit Müttern so spannend?

Wogrolly: Spannend ist das falsche Wort. Die Fantasie hat mit einem Tabubruch zu tun. Eine mütterliche Frau zu begehren gehört sich nicht. Durch sexuelle Fantasien holt man sie vom Thron der Mutterschaft herunter. Hier spielt auch wieder das Bedürfnis der Unterwerfung und Inbesitznahme hinein sowie der Beweis, dass man es als junger Mann schafft, eine reife Frau zu befriedigen.

STANDARD: Letztlich scheinen sexuelle Fantasien dennoch sehr viel über uns auszusagen. Warum zahlt es sich aus, da genauer hinzusehen?

Wogrolly: Weil hinter sexuellen Fantasien auch oft verschüttete existenzielle, menschliche Bedürfnisse stecken, die man erst entschlüsseln muss. Sie sind eine Chance sich zu fragen: Was brauche ich im Leben wirklich? Ist es mehr Freizeit und Entspannung? Mehr Zeit für mich? Eine Möglichkeit Stress, Enttäuschung, Wut oder Alltagsfrust loszuwerden? Diese zutiefst menschlichen Bedürfnisse werden auch in die Sexualität verlagert. Sexuelle Fantasien sind dann zusagen die Symptome dieser unbefriedigten Bedürfnisse.

STANDARD: Woran erkennt man, dass hinter einer sexuellen Fantasie nicht bloß ein Bedürfnis, sondern ein Trauma steckt?

Wogrolly: Ein Indiz für ein Trauma ist seelisches oder psychisches Leid, das man empfindet, wenn man sexuelle Fantasien hat. Es gibt Menschen, die ihr Trauma sogar bewusst oder unbewusst in der Realität reinszenieren. Das machen sie, um die seelische Verletzung zu heilen, in Wahrheit wiederholen sie aber das Trauma. In solchen Fällen rate ich, sich professionelle Hilfe in einer Psychotherapie, die auf Traumatherapie ausgerichtet ist, zu holen. (Interview: Nadja Kupsa, 26.4.2024)