Wladimir Putin und Gerhard Schröder
Wladimir Putin konnte nicht nur während seiner Zeit als Bundeskanzler auf die Freundschaft mit Gerhard Schröder bauen.
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Mediale Doppelgänger. Webseiten, die Seriosität ausstrahlen und renommierten Nachrichtenseiten nachempfunden sind, aber von Falschnachrichten und Kreml-Propaganda nur so strotzen. 3826 Webseiten, teils gefakte Regierungsseiten, viele antiukrainische, noch mehr dezidiert prorussische hat die europäische Non-Profit-Organisation AI Forensics bisher aufgespürt.

463 gesponserte Videos, die allein nach der Intensivierung der deutschen Waffenlieferungen an die Ukraine im November 2023 diese zu unterminieren versuchten. 38 Millionen erreichte Facebook-User in Frankreich und Deutschland im vergangenen halben Jahr. Das alles gehört zu der wegen ihrer News-Klone vom EU Disinfo Lab "Operation Doppelgänger" getauften Desinformationskampagne Russlands, mit der sich Europa seit knapp zwei Jahren konfrontiert sieht. Und sie ist nur eine von vielen, denn: Online-Krieger in Russlands Diensten gibt es viele, und sie sind schnell. Nach dem Terroranschlag auf Moskaus Crocus City Hall dauerte es keine 48 Stunden, bis 42.000 französischen Facebook-Usern Werbung eingespielt wurde, die eine ukrainische Involvierung in den Terror propagierte.

Internet-Armee

Man versucht derlei Operationen durch Gesetze und Nachrichtendienste Herr zu werden, scheitert neben der Ressourcenfrage aber oft auch an der äußerst mangelhaften Einhaltung der Regeln durch Facebooks Mutterkonzern Meta. Es ist eine Internet-Armee, angeführt von Ilya Gambashidze. Der Russe leitet die von der EU sanktionierte russische PR-Firma Social Design Agency, die gemeinsam mit der Firma Struktura hinter der Operation Doppelgänger stecken soll.

Dafür, dass es von ganz oben im Kreml abgesegnet wurde, gibt es bislang keine Beweise, doch die Indizien sprechen dafür. Neben regulären Soldaten, Auftragsmördern, Geheimdiensten und kaltblütigen Söldnertruppen kämpfen längst auch Onlinekrieger für den Kreml am russischen Comeback auf der internationalen Bühne nach der Demütigung der 1990er-Jahre, wie viele russische Ultranationalisten das Jahrzehnt nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion sehen.

Und obwohl Russlands Machthaber Putin europäische Militärbasen durch Agenten ausspionieren und Sabotageakte planen lässt, obwohl er den Nahen Osten und Afrika zu destabilisieren und nicht zuletzt Europas Demokratie zu gefährden droht, scheint er bei Teilen der europäischen Bevölkerung und Politik noch immer geschätzt, teils gar bewundert zu werden. Wie kann das sein?

Eine Anti-Corona-Demo in Deutschland.
IMAGO/Andre Lenthe

Strategischer Dissens

Die multimediale Stimmungsmache dürfte wohl einen wesentlichen Beitrag zu Putins Akzeptanz in Europa beitragen. Sie scheint eingebettet in eine Strategie, in der es für den Kreml gilt, selbst relevant zu bleiben und den vermeintlichen Feind einzubremsen. Als der sogenannte Westen, angetrieben von geteilten Überzeugungen, von einem Mit- statt einem Gegeneinander sich innerhalb der EU zusehends tiefer integrierte und beflügelt von einer immer vernetzteren Wirtschaft das Verbindende beschwor, setzte Russland auf das Trennende. Nicht für etwas sein, sondern prinzipiell einmal dagegen. Anti alles.

Worüber auch immer man in Europa oder den USA gerade streitet: Putins Russland sieht Chancen, Zwietracht zu säen oder bestehende Differenzen zu verstärken. Deshalb wird dort, wo es Spaltpotenzial gibt, der Dissens gefördert. So gibt es Belege dafür zum Thema Migration: Als Europa wieder einmal über den richtigen Umgang mit Zuwanderung diskutierte, förderten russische Trollarmeen in sozialen Medien Erzählungen, wonach das christliche Abendland bedroht sei und die westliche Lebensart aussterbe.

Hetze gegen Waffenlieferungen

Aktuell bestätigen mehrere Recherchen, dass sich dieses Muster mit Desinformation zum Ukrainekrieg wiederholt, um Stimmung gegen Waffenlieferungen an Kiew zu machen. Die Spanne an Fake News reicht von angeblich unfairem Wettbewerb durch ukrainische Hühnerfarmer bis hin zum vielfach widerlegten Narrativ, der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj sei in Wahrheit ein Nazi.

Wenn in afrikanischen Staaten junge, oft arbeits- und scheinbar perspektivlose Menschen gegen Ex-Kolonialmächte wie Frankreich aufbegehren, sind russische Trolle zur Stelle – und malen das neokoloniale Russland als Paradies auf Erden.

Malische Demonstranten sahen schon 2020 in Frankreich den Tod und in Putin die Zukunft.
AP

Dan Whitman vom Foreign Policy Research Institute sagt, russische Desinformationskampagnen in Afrika hätten für "einige der raschesten Erfolge in der Geschichte der Propaganda" gesorgt. Die Kampagne des Kreml, welche die Annexion der Krim 2014 begleitete, bezeichnete der renommierte US-Historiker Timothy Snyder 2014 als "die ausgefeilteste Propagandakampagne in der Geschichte der Kriegsführung". Gegen Migration, gegen Ukraine-Hilfe, gegen alte Kolonialmächte.

Gegen Corona-Impfung und E-Autos

Europäische Staaten erleben derzeit wiederum einen Aufwind rechtspopulistischer Politik, die das "Dagegensein" zum Prinzip erhoben hat. Zum Beispiel beim Thema E-Autos, frei nach dem Motto: "Wenn ihr für Elektroautos und den Umstieg in eine klimaneutralere Zukunft seid, dann sind wir für den Verbrennermotor." Russland profitiert, weil es weiter Öl liefern kann. Oder: Wenn Bevölkerungsgruppen einer Corona-Schutzimpfung skeptisch gegenüberstehen, hilft russische Desinformation dabei, die Wirkstoffe als große Intrige der Eliten, der Pharmaindustrie und der EU hochzujazzen. Und Russland lacht sich ins Fäustchen, weil auf Anti-Corona-Demos auch Gerechtigkeit für Russland gefordert wird. Ob vom Kreml bewusst herbeigeführt oder nicht: Immer wieder ergeben sich so Überschneidungen von rechter (sowie teils ganz linker) und russischer Politik.

Für Gerhard Mangott, Politikwissenschafter an der Universität Innsbruck, hat vor allem die Affinität rechter europäischer Parteien zu Russland ein klares vierteiliges Muster: einig in ihrem Antiamerikanismus, im Wettern gegen die EU, in ihrer positiven Einstellung zu gewissen autoritären Herrschaftsformen und zu einer nationalkonservativen Tradition – die in Russland vor allem auch von der orthodoxen Kirche gepusht wird.

Mangelnde Selbstreflexion

Erst kürzlich beklagten hochrangige US-Republikaner, dass Parteikolleginnen oft russische Propaganda ungefiltert reproduzierten. Das ist immerhin ein Maß an Selbstreflexion, an dem es in Europa lange vielfach haperte.

Das scheint sich nun langsam zu ändern. Dank erhöhter Sensibilisierung für russische Einflussversuche flog zuletzt nicht nur (erfolgreiche wie gescheiterte) Spionage auf. Auch die mediale Kreml-Propaganda rückt verstärkt ins Tageslicht. So wurde kürzlich bekannt, dass Voice of Europe, eine mediale Fake-News-Schleuder, direkt von prorussische Kräften finanziert wurde.

Der tschechische Inlandsnachrichtendienst BIS spielte Mitte April tschechischen Abgeordneten offenbar insgesamt vier Audioaufnahmen vor, die nahelegten, dass sich bestimmte europäische Politiker von einem Kreml-nahen Netzwerk bezahlen lassen. Auf zwei Aufnahmen soll der AfD-Bundestagsabgeordnete Petr Bystron zu hören sein. Gegen den AfD-Listen-Ersten bei der Europawahl, Maximilian Krah, wird ein Anfangsverdacht wegen Geldannahme aus Russland und China geprüft. Sein parlamentarischer Mitarbeiter sitzt gar in Untersuchungshaft. Geld aus Moskau soll laut tschechischem Geheimdienst auch nach Belgien, Frankreich, Deutschland, Ungarn, die Niederlande und Polen geflossen sein. Der russische Inlandsgeheimdienst FSB soll einst auch versucht haben, sich um 65 Millionen US-Dollar bei der rechtsnationalen Lega Nord von Matteo Salvini in Italien "einzukaufen". Salvini propagierte immer wieder die Aussetzung von Sanktionen gegen Russland.

Italiens späterer Innenminister Matteo Salvini forderte schon 2014 ein Ende der Sanktionen gegen Russland.
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Politische Mitte als Ziel

Der bekannte deutsche Journalist und Putin-Erklärer Hubert Seipel erhielt ebenfalls heimlich Geld aus Russland, wie im Rahmen des Cyprus Confidential-Projekts vom STANDARD mit aufgedeckt wurde. Die FPÖ sagt heute, der Freundschaftsvertrag mit Putins Partei sei 2016, und damit "ganze sechs Jahre vor dem Einmarsch Russlands in die Ukraine" geschlossen worden. Das war freilich auch zwei Jahre nach Russlands Annexion der Krim und dem Einfall prorussischer Kräfte in der Ostukraine. In Österreich kursierten 2018 in blauen Ministerien zudem Pläne zu Imagekampagnen, wie man hierzulande ein positiveres Bild Russlands verbreiten könnte.

Die oft willfährigen rechten Politiker für Moskau rangierten kurioserweise lange nicht ganz oben auf der Prioritätenliste, blieb doch ihr realer Einfluss in der Politik lange sehr begrenzt. Auch deshalb versuchte sich Moskau schon seit jeher im politischen Zentrum, in konservativen wie in sozialdemokratischen Parteien breitzumachen, dort "eigene" Leute einzuschleusen oder ein paar Leute im Sinne Russlands zu rekrutieren. In der politischen Mitte liege schließlich der wirkliche Einfluss, glaubt Experte Mangott. Und: "Wer einmal Geld aus Moskau angenommen hat, bleibt für den Rest seines politischen Lebens erpressbar und steuerbar."

Marine Le Pen und Wladimir Putin, 2017.
AFP/SPUTNIK/MIKHAIL KLIMENTYEV

Tatsächlich waren es anfangs also weniger notorische "Putin-Versteher", die aktiv den Draht nach Russland suchten, vielmehr war es Moskau selbst, das nach der Orangen Revolution in Kiew 2004 in Putins zweiter Amtszeit zusehends einen Spagat aus Nationalkonservatismus daheim und der Rekrutierung prorussischer Politiker im Ausland versuchte, wie Kacper Rekawek vom International Centre for Counter-Terrorism in Russia and the Far-Right schreibt. Letztendlich lässt sich nicht präzise quantifizieren, wie hoch der finanzielle Aufwand ist, den Russland bereit ist, in die Spaltung Europas zu investieren. Mangott geht von rund 150 bis 200 Millionen US-Dollar jährlich aus, die aus dem russischen Staatshaushalt finanziert werden. Die Mittel für "inoffizielle Operationen" dürften noch deutlich höher ausfallen. Solange der Westen mit sich selbst beschäftigt ist, wird das als Vorteil für Russland gesehen.

Der Walzer mit und der Knicks vor Wladimir Putin von der durch die FPÖ nominierte einstige Außenministerin Karin Kneissl ist mittlerweile weltbekannt.
ROLAND SCHLAGER / APA / pictured

Karin Bischof, Professorin für Demokratieforschung an der Donau-Uni-Krems, plädiert deshalb für mehr Medienkompetenz, die vor allem auch in Schulen frühzeitig unterrichtet werden müsse. Es sollte auch streng untersucht werden, wo es staatliche Förderungen für Fake-News-Schleudern gebe. Bischof: "Auf manchen Plattformen und privaten Fernsehsendern werden teils hanebüchene Verschwörungstheorien verbreitet." Nicht zuletzt gelte es, die bestehenden EU-Regeln für Internetkommunikation durchzusetzen und einzuhalten. Expertinnen und Experten sind sich quasi einig: Europas Demokratien müssen endlich einsehen, an welch kritischem Punkt sich westliche Demokratien befinden. (Fabian Sommavilla, 29.4.2024)