So ein dramatischer Einbruch ist selbst im volatilen Rohstoffgeschäft selten. Erstmals in 20 Jahren hat die russische Gazprom im vergangenen Jahr einen Verlust geschrieben. Laut der soeben präsentierten Bilanz hat das Unternehmen 2023 rund 583 Milliarden Rubel, fast sechs Milliarden Euro, nach Steuern verloren. Noch im Jahr davor sah die Welt anders aus, da hatte der Konzern 13 Milliarden Euro Profit gemacht. Gefallene Gaspreise und weniger Abnehmer in Europa haben den Erfolgslauf gestoppt.

Schon mal bessere Zeiten erlebt: Die mächtige Zentrale der Gazprom in St. Petersburg.
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Während große Abnehmer wie Polen und Deutschland kein Pipelinegas aus Russland mehr beziehen und in der EU nur noch acht Prozent der Importe von dort stammen, ist die Lage in Österreich anders. 87 Prozent der Gasimporte kamen im Februar aus Russland, 97 Prozent waren es im Jänner, 98 Prozent im Dezember. Neuere Zahlen gibt es nicht, aber die heimische Abhängigkeit von Russland ist zwei Jahre nach Kriegsausbruch ungebrochen. Österreich hat im Vorjahr fast vier Milliarden Euro an Gazprom überwiesen.

Dabei hatte sich die türkis-grüne Regierung schon vor zwei Jahren dazu bekannt, die Gasversorgung zu diversifizieren. 100 Millionen Euro an Förderungen pro Jahr wurden zugesagt. Gebracht hat das offensichtlich bisher wenig.

In der Regierung ist ein Ringen um den Russland-Exit ausgebrochen. Im Februar hat das Klimaministerium von Leonore Gewessler (Grüne) einen Vorschlag vorgelegt, wonach erstmals heimische Energielieferanten verpflichtend werden sollen, sich von russischem Gas loszusagen. Im kommenden Winter sollten die Versorger 40 Prozent nichtrussisches Gas kaufen. Dieser Anteil soll kontinuierlich steigen, um im Winter 2027/2028 schließlich 100 Prozent zu erreichen.

Die ÖVP sagt nicht dezidiert Nein zu dem Vorschlag, reagiert aber unterkühlt. Wirtschaftsminister Martin Kocher (ÖVP) warnt im STANDARD-Gespräch vor "Flurschäden" für die Wirtschaft. Angetrieben wird diese Skepsis von kritischen Stimmen in der Industrie. Hochrangige Vertreter warnen vor einer Verschlechterung der heimischen Versorgungslage bei einer Abkehr von russischem Gas. Aber wer hat recht: Ist der Exit machbar oder nicht? Die Antwort hängt von drei Faktoren ab: Gibt es genug Gas abseits der russischen Quelle, sind die Kapazitäten ausreichend, um es nach Österreich zu bringen? Und was wäre mit den Preisen?

Gas gibt es ausreichend

Die gute Nachricht vorweg: Viel Gas ist schon da. Österreichs Gasspeicher sind am Ende der Heizsaison immer noch zu 75 Prozent gefüllt. Seit Wochen schon wird mehr Gas in die unterirdischen Lagerstätten gepresst als entnommen. Selbst Industriekapitäne sagen, dass es im kommenden Winter ohne russisches Gas kein Versorgungsproblem geben würde. Heikel wäre erst wieder der Winter 2025/2026.

Allerdings gibt es am Weltmarkt genügend Gas, um Lieferungen aus Russland dann zu ersetzen. Die EU hat noch vor zwei Jahren 40 Prozent des Gasbedarfs aus Russland bezogen und konnte diese Abhängigkeit nur deshalb reduzieren, weil die benötigten Mengen in Form von LNG, verflüssigtem Erdgas, aus den USA und Asien kamen. Laut Energieagentur IEA wird der Bedarf an Gas heuer durch die wirtschaftliche Erholung etwas kräftiger steigen als noch 2023. Es wird aber auch mehr LNG zur Verfügung stehen. Die IEA erwartet etwas mehr Preisvolatilität heuer. Eine Energiekrise wie 2022 werde es aber nicht geben.

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Neben Importen aus Norwegen, müsste Österreich seinen Zusatzbedarf auch über LNG stemmen. Die Hauptimportwege dafür führen über die Terminals in Rovigo, Italien, Lubmin in Deutschland sowie Rotterdam in den Niederlanden. Am dortigen LNG-Terminal "Gate" ist die OMV seit 2007 beteiligt. Reichen die Anlandekapazitäten für einen erhöhten Bedarf? Ja. Laut Untersuchung des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW) waren die in Deutschland nach dem Nord-Stream-Schock in Windeseile errichteten drei Terminals in diesem Winter nur zur Hälfte ausgelastet. Ähnliches hört man von Terminalbetreibern im Mittelmeerraum.

Russisches Gas nicht billig

Nur weil es prinzipiell ausreichend Gas gibt, heißt das nicht, dass es nicht teuer eingekauft werden muss. Das ist einer der größten Streitpunkte rund ums russische Gas: Ist es tatsächlich billiger, als wenn der Rohstoff aus anderen Quellen importiert wird? Die OMV hat 2018 den Liefervertrag mit Gazprom bis 2040 verlängert, um Österreichs Versorgungssicherheit zu garantieren und weil das Russland-Gas angeblich günstig sei. Doch das darf bezweifelt werden.

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Der OMV-Vertrag ist nicht einsehbar. Der darin vereinbarte Abnahmepreis dürfte sich aber recht nah am Marktpreis fürs Gas bewegen. Der Neos-Lab, Thinktank der Oppositionspartei, wertet laufend Außenhandelsdaten der Statistik Austria aus. Die Unternehmen müssen einmelden, zu welchem Preis sie wie viel Gas kaufen. Statistiker sagen, diese Daten seien verlässlich.

Laut Zahlen des Labs kostet russisches Gas etwa so viel wie Gas, das über Deutschland oder Italien nach Österreich kommt. Die Überweisungen nach Russland sind 2022 mit dem Anstieg der Energiepreise explodiert. Ein ähnliches Bild ergeben Zahlen der EU-Kommission bezüglich der Energiekosten für Unternehmen in Europa. Heimische Unternehmen zahlen für Gas etwa so viel wie Betriebe in Deutschland, wir liegen im europäischen Schnitt. "Das mit dem billigen russischen Gas ist eine Mär", sagt Energieexperte Walter Boltz. Andere sind überzeugt, dass die OMV vergleichsweise günstig einkauft und das Gas zu einem Preis verkauft, den der Markt hergibt. "Sie bessert ihre Bilanz damit auf", sagte ein Insider dem STANDARD. Die Industrie hätte selbst in dem Fall wenig davon.

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Sollte der russische Gasfluss versiegen, gehen Experten wie Johannes Mayer, Chefökonom der E-Control, von einer Verteuerung aus. Österreich hätte Zusatzkosten für den Transport über Italien und Deutschland. Aktuell kostet Gas im Großhandel etwa 30 Euro je Megawattstunde. Durch Transportkosten kämen zwei Euro dazu, sagt Mayer. Deutschland verlangt seit 2022 zudem eine Umlage für durchgeleitetes Gas. Österreich hält die Umlage für rechtswidrig, Deutschland hält aber daran fest. Die Umlage verteuert Gas nochmals um zwei Euro. Statt 30 wären rund 34 Euro zu berappen.

Flaschenhals Transport

Einen großen Streit gibt es darüber, ob die Leitungskapazitäten reichen, Gas aus Deutschland und Italien nach Österreich zu bringen. Dabei gibt es zwei Lager: "Wir sind einigermaßen skeptisch, was ein Szenario ganz ohne russisches Gas betrifft", sagt Bernhard Painz, Vorstand bei der Austrian Gas Grid Management AG, jenem Unternehmen, das für das Funktionieren des Gasmarkts zuständig ist.

Die Importkapazitäten reichten zwar für Österreich. Allerdings ist Österreich selbst Gastransitland. Wer die Leitungen zuerst bucht, hat Vorfahrt. Sollte kein russisches Gas mehr über die Ukraine kommen, müssten via Österreich auch die Slowakei und Slowenien mitversorgt werden. Wenn der Eigenbedarf wegen eines kalten Winters hoch ausfiele, reichten die importierbaren Mengen nicht aus, sagt Painz. Die Speicher würden sich über den Winter leeren mit der Folge, dass es wieder starke Preisausschläge aufgrund von Knappheiten gäbe.

Bald kein Druck mehr auf der Gasleistung durch die Ukraine.
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Diese Darstellung stößt auch auf Widerspruch. Energieexperte Boltz nennt das "ein Worst-Case-Szenario", bei dem alle negativen Faktoren zusammenkommen müssten. Allein wenn es der Industrie gelinge, den Gasverbrauch so niedrig zu halten wie zuletzt, zeichne sich kein Kapazitätsproblem am Horizont ab. Und ein Flaschenhals, der schon seit längerem bekannt ist, wird jetzt, spät, aber doch, angegangen.

Für den sogenannten WAG Loop, eine Verstärkung der West-Austria-Gasleitung an der Grenze zu Deutschland, gibt es seit kurzem grünes Licht von der Regierung samt Zusage einer Mitfinanzierung, wobei das Gesetz dafür noch fehlt. Der WAG Loop würde die Transportkapazität zwischen Deutschland und Österreich ab 2027 von 87 Terawattstunden (TWh) im Jahr um 30 Prozent erhöhen. Zum Vergleich: Österreichs Jahresverbrauch an Gas lag im Vorjahr bei 75 TWh, war aber auch schon deutlich höher. 2021 lag der Verbrauch bei 96 TWh. Richtung Italien beträgt die Leitungskapazität 98 TWh.

Erweiterte Infrastruktur

Zusammengefasst: Gas gibt es genug, der Transport würde teurer werden, wenn wir nichts mehr aus Russland bezögen, der Effekt wäre moderat. In einem Worst-Case-Szenario könnte es zu Knappheiten kommen, dagegen wird erst die Erweiterung der Infrastruktur 2027 Abhilfe schaffen. Laut dem Exit-Plan müsste erst dann der Anteil von russischem Gas bei null liegen. "Wirklich teuer ist es, keine Alternativen zu haben. Wir müssen die Transportkapazitäten vom Westen erhöhen, mit aller Kraft gegen die deutsche Gasumlage vorgehen und den EU-Energiebinnenmarkt voranbringen", sagt die Politikerin Karin Doppelbauer von den Neos, die schon länger auf einen Exit drängen.

Klingt jedenfalls alles machbar. Möglich, dass alles noch schneller gehen muss. Ende 2024 läuft der Transitvertrag zwischen Russland und der Ukraine aus. Weil der ukrainische Gasnetzbetreiber Naftogaz eine Verlängerung ausschließt, droht zu Neujahr das Aus für russische Exporte via Ukraine. Alle Planspiele müssten dann sofort umgesetzt werden, die beschriebenen Risiken wären höher. Vielleicht ein Trost: Andere Staaten haben den Exit geschafft.

Ein Problem bliebe freilich noch bestehen im Fall des langsamen, gesetzlichen Ausstiegs: Nur weil die OMV ihr Gas aus Russland nicht mehr in Österreich verkaufen dürfte, hieße das ja nicht, dass sie es nicht in anderen Ländern tun kann. Damit also die Überweisungen nach Russland wirklich vor dem Vertragsende 2040 aufhören, müssten auch andere Länder in der EU den Verkauf von russischem Gas untersagen oder Österreich müsste den Erwerb des Rohstoffs von der Gazprom gesetzlich unterbinden. (Günther Strobl, András Szigetvari, 4.5.2024)