Bis Mitte April war es nur eine Hypothese, dass das iranische Regime, in dem die Revolutionsgarden mehr Macht haben denn je, heute risikofreudiger ist als früher – bis erstmals von iranischem Territorium aus Israel massiv mit Drohnen, Marschflugkörpern und Raketen beschossen wurde. Die Abwehr funktionierte sehr gut, Israel antwortete entschieden, aber nicht eskalierend. Seitdem herrscht angespannte Ruhe – an der Oberfläche.

Satellitenaufnahme des iranischen Luftwaffenstützpunktes Isfahan, in dem Gebiet befindet sich auch ein Teil der iranischen Nuklearanlagen.
AP/Planet Labs PBC

Darin tönen Äußerungen wie die aktuelle von Ex-Außenminister Kamal Kharrazi, jetzt im Beraterstab von Religionsführer Ali Khamenei, umso lauter: Wenn die Existenz der Islamischen Republik bedroht wäre, dann müsste sie ihre Atomdoktrin ändern. Noch sei das nicht geschehen. Noch gebe es keine Entscheidung, Atomwaffen zu bauen.

Das hat man aber auch schon unterschwelliger gehört. Revolutionsgardengeneral Ahmad Haghtalab ist der Chef eines angesichts von mutmaßlich israelischen Sabotageakten extra eingerichteten "Schutz- und Sicherheitscorps" für Nukleares: Wenn das "zionistische Regime" die Atomanlagen des Iran bedrohe, müsse man bei der Atomdoktrin von früheren Überlegungen abgehen, sagte er schon vor dem Gegenangriff Israels.

Reicht die "Kapazität"?

Die früheren Überlegungen lauten so: Die nukleare Kapazität – also eine Bombe bauen zu können, Material und Technologie dafür zu besitzen – gibt dem Iran mehr Schutz, als wenn er ein paar Atombomben hätte, angesichts des Atomwaffenarsenals Israels, das noch dazu unter US-Schutz steht. Im Februar bemühte der frühere Atomchef Ali Akbar Salehi den Vergleich mit einem Auto: Auch das könnte man zusammenbauen, wenn man alle Teile parat habe. Ähnliches kommt seitdem auch von anderen Offiziellen.

Und dann gibt es auch noch die "nukleare Fatwa": Khamenei hat in einem islamischen Rechtsgutachten festgehalten, dass Atomwaffen "unislamisch" seien. Fatwas sind jedoch nicht in Stein gemeißelt, sie können staatliche Politik sein und geänderten "Bedürfnissen" der Gemeinschaft angepasst werden. Nicht umsonst hatte der US-Verhandler des Atomdeals, John Kerry, vor 2015 die Idee, dass der Iran die Fatwa in ein Gesetz gießen sollte.

Als Beispiel wird immer wieder Nordkorea, das sich mit Atomwaffen unantastbar gemacht hat, angeführt – am anderen Ende steht Libyen. Dort gab Muammar al-Gaddafi 2003 unter dem Druck des US-Angriffs auf den Irak sein Atomwaffenprogramm auf. 2011 wurde das Regime gestürzt, mit Hilfe der Nato, die die Rebellen unterstützte.

Die völlig ungelöste Problematik des fortschreitenden iranischen Atomprogramms bekommt wieder Aufmerksamkeit, seitdem am Dienstag der Chef der Internationalen Atomenergie-Organisation (IAEA) mit leeren Händen aus dem Iran nach Wien zurückkehrte. Schon im März 2023 vereinbarte Generaldirektor Rafael Grossi mit dem Iran in einem "Gemeinsamen Statement" bessere Kooperation und Klärung offener Fragen. 14 Monate später sieht es diesbezüglich weitgehend düster aus.

Der Ausstieg Trumps 2018

Es gibt gleich mehrere nukleare Baustellen im Iran: den Kollaps des Atomdeals von 2015 sowie ungelöste Fragen zu iranischen Forschungen und Arbeiten zu Atomwaffen in der Vergangenheit, darunter unerklärte Funde von Uranspuren.

Der Ausstieg Donald Trumps 2018 aus dem Atomdeal veranlasste den Iran, in den Jahren danach zuerst langsam, dann rasant selbst die Regeln des Deals zu brechen. Er schüttelte auch die strenge Überwachung der Atomanlagen ab. Seitdem ist die IAEA im Iran teilweise blind.

Der Iran reichert heute Uran auf bis zu 60 Prozent anstelle der 2015 verhandelten 3,67 (!) Prozent an. Zwar war nach einem Bericht der IAEA von Februar der Bestand von 60-Prozent-Uran im Vergleich zum Herbst wieder etwas geschrumpft. Dafür besitzt der Iran mehr Uran mit knapp 20 Prozent Anreicherungsgrad, bei stark ausgebauten Anreicherungskapazitäten, auch wenn nicht alle genutzt werden.

Für auf 60 Prozent angereichertes Uran gibt es keinen zivilen Verwendungszweck, es ist aber auch nicht waffenfähig. Der Iran könnte waffenfähiges Uran jedoch herstellen, indem er es weietr anreichert – eher in Tagen als Wochen. Der jetzige Uranbestand würde für mehrere Bomben reichen. Wie Grossi in einem Interview im April betonte, heißt das nicht, dass der Iran schnell eine Waffe bauen könnte. Man geht davon aus, dass das ein halbes Jahr dauern würde. Es braucht auch die Technologie für den Bau eines entsprechenden Raketensprengkopfs.

In den Uno-Sicherheitsrat

Die Lage bleibt dennoch beunruhigend. Laut ihren Berichten kann die IAEA nicht mehr davon ausgehen, dass sie über alle nuklearen Aktivitäten und Materialien im Iran Bescheid weiß. Aber vielleicht beginnt der Iran ja nun wieder neue "Gespräche" – um Verurteilungen durch den im Juni tagenden IAEA-Gouverneursrat zu entgehen.

Aber der Fall würde irgendwann doch wieder im Uno-Sicherheitsrat landen: Es geht ja um die Umsetzung von Resolution 2231, mit der der Atomdeal 2015 internationales Recht wurde. Dem Iran droht wegen Nichterfüllung die Rückkehr der Atomsanktionen. Aber im Sicherheitsrat sitzt auch Russland, das von Teheran Drohnen für den Ukrainekrieg bekommt. Wobei mit Sicherheit auch Moskau und Peking nicht wollen, dass sich die Islamische Republik Atomwaffen zulegt. (ANALYSE: Gudrun Harrer, 10.5.2024)