Krebsüberlebende mit Kopftuch schaut aus dem Fenster
Krebsüberlebende seien zwar oft "tumorfrei, aber nicht gesund", sagt eine Psychologin. Denn die psychischen Folgen können gravierend sein.
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Ulrike Römings Haare sind schulterlang – nicht besonders voluminös, aber kräftig. Ihre Finger- und Fußnägel hat sie bunt lackiert. Das T-Shirt sitzt figurbetont, aber nicht eng. Auf den Lippen trägt sie ein Lächeln. Vor wenigen Wochen feierte Röming ihren 42. Geburtstag. Dass sie vor acht Jahren an Brustkrebs erkrankte, sieht man ihr nicht an. Dafür bräuchte man einen Röntgenblick. Dieser würde zeigen, dass ihr aufgrund des Tumors vorsorglich beide Brüste entfernt wurden. Sie trägt nun zwei Implantate aus Silikon. Über dem linken Brustbein hat Röming eine längliche Narbe. "Da saß der Portkatheter", erklärt sie. Über den wurden ihr die Medikamente der Chemotherapie verabreicht. Die Narben sind inzwischen gut verheilt.

So wie Ulrike Röming geht es vielen, in Deutschland sind es etwa 4,5 Millionen Menschen. Sie alle leben ein Leben mit oder nach Krebs. Krebsüberlebende oder "cancer survivors" werden sie genannt. Die meisten von ihnen hatten Tumoren in der Brust (23 Prozent), gefolgt von Krebszellen in der Prostata (15 Prozent) oder im Darm (zwölf Prozent). Liegt die Diagnose fünf oder mehr Jahre zurück, spricht man auch von Langzeitkrebsüberlebenden.

Seit einigen Jahren rückt diese Gruppe immer stärker in den Fokus der Forschung. Denn ihre Zahl nimmt seit Jahren zu. Das liegt daran, dass Tumoren heutzutage viel früher erkannt und besser behandelt werden können. Die ursprünglich lebensbegrenzende, unheilbare Krankheit ist in vielen Fällen dadurch zu einer lebensverändernden chronischen Erkrankung geworden. Dazu kommt der demografische Wandel: Die Menschen werden älter, und im Alter steigt das Risiko für Krebs. Das sorgt ebenfalls dafür, dass die Anzahl der Erkrankten und damit die der Überlebenden wächst.

Was kommt nach dem Kampf gegen Krebs?

Doch wie geht es Menschen wie Ulrike Röming? Finden sie nach Abschluss der Therapie in ihr Leben zurück? Welche Langzeitfolgen müssen sie erdulden? Und haben sie ständig Angst, dass der Krebs wiederkommt, oder fühlen sie sich irgendwann geheilt?

Hinweise auf diese Fragen gibt eine Untersuchung von Wissenschaftern und Wissenschafterinnen vom Deutschen Krebsforschungszentrum. Der Epidemiologe Volker Arndt ist Mitglied der Arbeitsgruppe Langzeitüberleben nach Krebs (Lonko). Er und sein Team haben gut 2700 Betroffene zu ihrer gesundheitsbezogenen Lebensqualität befragt. Dabei ging es neben dem seelischen und körperlichen Befinden auch um die Frage, ob soziale Kontakte durch den eigenen körperlichen Zustand beeinträchtigt sind. Konnten sie sich ins Familienleben einbringen, an Aktivitäten mit Freundinnen und Freunden teilnehmen? Die Teilnehmenden der Untersuchung waren an Brust-, Darm- oder Prostatakrebs erkrankt, ihre Diagnosen lagen 14 bis 24 Jahre zurück. Zum Vergleich diente eine Kontrollgruppe von 1700 Personen ähnlichen Alters, die nie an Krebs erkrankt waren.

Das Ergebnis ist auf den ersten Blick überraschend: Tatsächlich schätzten die Langzeitüberlebenden ihre gesundheitsbezogene Lebensqualität insgesamt etwas besser ein als die Vergleichsgruppe. Einen besonders positiven Blick hatten die über 70-jährigen Männer sowie ältere Personen ohne aktive Krebserkrankung. "Menschen, die trotz Krebs sehr alt werden, könnten mit den Jahren dankbarer werden", erklärt die Psychologin Daniela Doege, die an der Studie beteiligt war: Die befragten Männer waren zudem an Darm- oder Prostatakrebs erkrankt, gerade Letzterer erfordere mit zunehmendem Alter für gewöhnlich keine so umfassende Behandlung, manchmal müsse nicht einmal operiert werden. Komplikationen seien daher seltener.

Krebs schärft den Blick aufs Wesentliche

Dass Menschen mit Krebs ihre Lebensqualität teils besser bewerten als Gesunde, ist in der Forschung zudem ein bekanntes Phänomen: "Die Erkrankung verschiebt bei vielen die Bewertungsmaßstäbe und führt dazu, dass sie die Bedeutung einzelner Lebensbereiche überdenken", erklärt Doege. Statt den Job über alles zu stellen, sind es nun die engen Sozialkontakte, die zählen. Anstelle der Reise nach Spanien reicht ein Trip an die Ostsee. "Alltägliche Beschwerden werden im Vergleich zur durchgemachten Erkrankung weniger dramatisch erlebt", sagt sie. Response Shift nennen Wissenschafter und Wissenschafterinnen dies.

Ein genauer Blick offenbart allerdings, dass Langzeitüberlebende trotz der oft positiven Einschätzung ihrer Lebensqualität sich selbst Jahre nach der Therapie in ihrer Leistungsfähigkeit und ihren sozialen Kontakten beeinträchtigt fühlen. Besonders betroffen waren hier Menschen, bei denen der Krebs zurückkehrte. Dazu kommen körperliche Beschwerden. Im Vergleich zur Kontrollgruppe litten Langzeitüberlebende beispielsweise weitaus häufiger unter Magen-Darm-Problemen wie Durchfall und Verstopfung – und zwar unabhängig davon, an welcher Krebsart sie erkrankt waren. Viele Frauen berichteten zudem von Fatigue, einer dauerhaft anhaltenden Müdigkeit, sowie von Schlaflosigkeit, Kurzatmigkeit und Appetitverlust. Menschen, deren Erkrankung noch aktiv war und die sich im erwerbsfähigen Alter befanden, gaben vermehrt an, unter finanziellen Problemen zu leiden.

Eine Datenerhebung der Lonko-AG berichtet dazu von körperlichen Spät- und Langzeitfolgen bei Krebsüberlebenden wie etwa Lymphödemen oder kognitiven Einschränkungen, insbesondere der Aufmerksamkeits- und Gedächtnisfunktionen. Frauen kommen mitunter auch früher in die Wechseljahre, und bei beiden Geschlechtern kann es zu sexuellen Dysfunktionen wie Impotenz oder einer gestörten Orgasmusfähigkeit kommen. Mehr als ein Drittel der Überlebenden betrachtet sich auch fünf bis 16 Jahre nach der Diagnose noch als Krebspatient oder Krebspatientin, zeigt eine Studie.

"Tumorfrei, aber nicht gesund"

Auch Ulrike Röming sieht sich noch so. Durch die Chemotherapie kam sie frühzeitig in die Wechseljahre. Einige Jahre kämpfte sie mit Schlafstörungen, Stimmungsschwankungen und Hitzewallungen. Um die Symptome zu lindern, riet ihr die Ärztin dann zur Einnahme von Hormonen. "Seitdem geht es mir viel besser", sagt sie. Da sie Trägerin des BRCA1-Gens ist, welches das Risiko für Eierstockkrebs erhöht, und sie bereits in den Wechseljahren war, hat sie sich dann auch die Eierstöcke herausnehmen lassen.

Dass so viele Betroffene wie Ulrike Röming selbst Jahre nach Abschluss der Therapie noch unter Beschwerden leiden, findet Daniela Doege beachtlich. "Nur weil eine Person tumorfrei ist, ist sie noch lange nicht gesund", sagt die Psychologin. Das mache deutlich, wie wichtig eine kontinuierliche und vor allem individuelle Nachsorge ist. Beispielsweise werden viele Überlebende fünf Jahre nach Behandlungsabschluss in das normale Versorgungssystem eingegliedert. Statt zur onkologischen Nachsorge gehen sie nun nur noch zum Hausarzt oder zur Hausärztin. "Die haben allerdings oft keinen Zugriff auf die alten Therapieberichte", so Doege. Das heißt, sie wissen mitunter gar nicht, dass es beispielsweise eine Bestrahlung nahe dem Herzen gab. Für die Prävention sei das allerdings wichtig, da solche Behandlungen das Risiko für kardiovaskuläre Erkrankungen wie Bluthochdruck oder Schlaganfall erhöhen können.

Auch die Onkologin und stellvertretende Klinikdirektorin Katja Weisel vom Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf (UKE) plädiert für eine strukturierte Nachsorge. Wie das geht, zeigt zum Beispiel Care for Caya, ein bundesweites Nachsorgeprogramm für junge Erwachsene. "In diesem Programm wurden individualisierte Nachsorgepläne erstellt, die neben der Früherkennung und Behandlung möglicher Spätfolgen einer Krebsbehandlung die Beratung hinsichtlich Lifestyle-Faktoren wie Ernährung und Sport sowie psychosoziale Unterstützung und die gezielte Kontaktaufnahme mit Selbsthilfegruppen beinhalten", erklärt sie. Dass Menschen mit Krebs gut fünf Jahre nach ihrer Diagnose als geheilt gelten, sei eine recht willkürliche Grenze, so die Onkologin. Statistisch sinke ab diesem Zeitpunkt zwar bei den meisten Krebspatientinnen und Krebspatienten das Risiko, dass der Krebs zurückkehrt. Mittlerweile wisse man jedoch, dass sich auch Jahrzehnte nach der Erkrankung noch aus denselben Krebszellen neue Tumoren entwickeln können. Bei anderen Überlebenden sei der Krebs auch gar nicht heilbar, bleibe jedoch über mehr als fünf Jahre ruhend, bevor er irgendwann wieder zurückkehre.

Psychische Folgen am gravierendsten

Die Angst, dass der Tumor wiederkehrt, gehört zu den zehn häufigsten Belastungen von Langzeitüberlebenden. Das zeigt ein Review von mehr als 130 Studien, die Wissenschafter und Wissenschafterinnen um den Forscher Sébastien Simard von der Université du Québec à Chicoutimi (UQAC) ausgewertet haben. Dazu kommen Depressionen, mit denen viele Langzeitüberlebende zu kämpfen haben.

Auch für Ulrike Röming sind die psychischen Folgen am gravierendsten: "Nach der Behandlung wollte ich die Erkrankung einfach los sein und endlich wieder zurück in mein altes Leben", sagt sie. Gut ein Jahr nach der Diagnose stieg sie daher wieder in ihren Job ein. Hatte sie zuvor nur 25 Stunden gearbeitet, stockte sie bald auf 30, später 40 Stunden auf. Denn während der Krebsbehandlung merkte sie, dass das Krankengeld eines Teilzeitjobs, mit dem sie eigentlich sehr zufrieden war, zum Leben kaum ausreicht. "Ohne die finanzielle Unterstützung meiner Familie und mein Erspartes hätte ich das nicht geschafft", sagt sie. Für den Fall, dass der Krebs wiederkommt, wollte Röming sich absichern. Nachdem sie gut drei Jahre Vollzeit gearbeitet hatte, brach sie zusammen und kam in die Klinik. Zur Diagnose gehörten unter anderem Burnout und Depression. "Das lag nicht nur an der Arbeit", weiß sie heute: "Ich hatte die Krebserkrankung noch gar nicht richtig verarbeitet und die Angst, dass der Tumor metastasiert hat, also Krebszellen sich bereits woanders in meinem Körper ausgebreitet haben, komplett verdrängt."

Druck, ein "cancer survivor" zu sein 

Auf eine weitere psychische Herausforderung weist der Sozialwissenschafter Seán M. Williams von der University of Sheffield mit seiner Kollegin Kari Nyheim Solbrække von der Universität Oslo hin: Es ist der Begriff Survivor selbst. Gerade in den USA berichten Medien vor allem von Erzählungen des "heldenhaften Überlebens" – von "Chaos" und emotionalen Zerrüttungen werde hingegen kaum gesprochen. Durch die Globalisierung und soziale Medien wie Facebook und Twitter nehme diese Sichtweise auch in Deutschland zu. Dazu komme die Idee des "posttraumatischen Wachstums". Es beschreibt das Phänomen, dass einige Patientinnen und Patienten tatsächlich psychisch gestärkt aus der Erkrankung herausgehen: Sie setzen neue Prioritäten, haben die Erfahrung gemacht, Krisen meistern zu können, und schätzen ihr Leben mehr als zuvor. Der Kampf gegen Krebs sei damit zu einer Chance für eine neue Selbstfindung und Entwicklung geworden, die darin bestünde, nicht nur ein anderer, sondern in mancher Hinsicht ein besserer Mensch zu werden, schreiben Williams und Solbrække. Manchen Betroffenen gäben diese Erzählungen Kraft – nicht nur für das Durchstehen der Therapie, sondern auch für das Leben danach. Andere setzten sie hingegen unter Druck.

Ulrike Röming kennt beides. Während ihrer Erkrankung war sie viel im Internet unterwegs. "Der Austausch mit anderen tat unheimlich gut", erinnert sie sich. Zu sehen, wie Menschen wie sie, die den Krebs überstanden haben, in ihren Alltag zurückkehren, vielleicht auch ihren Job hinschmeißen, auf Weltreise gehen oder eine Yoga-Ausbildung machen, hat sie inspiriert – an manchen Tagen weckten die Bilder und Posts jedoch auch Zweifel: Wieso kriege ich das nicht hin? Warum sind die scheinbar wieder voll leistungsfähig und ich bekomme eine Depression? Facebook konfrontierte sie zudem immer wieder mit Traueranzeigen. "Frauen, die dachten, sie seien geheilt, und dann kehrte der Krebs wieder, und sie schafften es nicht", berichtet Röming. Diese Konfrontation mit der Realität oder zumindest einem Ausschnitt von ihr ließ sie noch weiter an ihrem Weg zweifeln: Es bringt ja gar nichts, sich ein neues Leben aufzubauen. Wenn ich das geschafft habe, kommt der Krebs und macht mir alles wieder kaputt. "Gedankenschleifen, die die Depression verstärkten", so Ulrike Röming.

Katja Weisel kennt den Druck, den Überlebende sich machen – etwa weil sie am Arbeitsplatz ihre alte Leistungsfähigkeit nicht mehr erreichen oder die Angst vor einem Rückfall sie immer wieder lähmt. Sie würde den Druck, der dadurch entstünde, allerdings nicht an einem Begriff oder Konzept festmachen. "Wichtig ist es, unsere Patienten nicht zu stigmatisieren", sagt sie: "Weder im Positiven noch im Negativen." Es ginge schließlich nicht um die Gruppe, der ein Mensch angehört, sondern um das Individuum. Den Menschen zu sehen – und zwar mit all seinen Bedürfnissen, Ängsten und Wünschen. "Das ist das Wichtige", sagt Katja Weisel: "Das bedeutet auch, den Raum zu öffnen und Tabuthemen anzusprechen." Sei es die Angst vor der Zukunft, finanzielle Probleme oder der Verlust der Libido.

Ulrike Röming hat eine Therapie angefangen. Dort stellt sie sich den Ängsten, die sie so lange zur Seite geschoben hat, sowie der Frage, was sie vom Leben will. "Das ist anstrengend, aber es wird sich lohnen", sagt sie, und da ist es wieder: das Lächeln. Von den sozialen Medien hat sie sich inzwischen distanziert. Statt sich mit den Geschichten von anderen zu beschäftigen, soll es nun um sie gehen. (Stella Marie Hombach, 5.5.2024)