Vor dem Gang ins Dunkle erhält jeder Teilnehmer einen Blindenstock.

Foto: Dialog im Dunkeln

Wien - Das Kichern in der Gruppe verrät Nervosität. Eine Schülerin spricht es aus: "Ich hab' ein bissl Angst." Eine Stunde lang durch völlige Dunkelheit soll es gehen, mit dem Blindenstock in der Hand und geführt von zwei Blinden, Jenny und Reinhard. Fünf Schülerinnen und Schüler einer Polytechnischen Schule, alle zwischen 14 und 16 Jahren alt, und zwei Erwachsene sind in der Gruppe, die an diesem Vormittag im Rahmen des im Keller des Schottenstifts in der Wiener Innenstadt wieder aufgebauten Projekts "Dialog im Dunkeln" in die Welt der Blinden eintauchen.

Mit der linken Hand der Wand entlang geht es um mehrere Ecken durch eine Schleuse, bis alles schwarz vor Augen wird. Die Gruppe kommt zum Stehen, dann zum Sitzen auf einer Bank. Jenny und Reinhard laden die Teilnehmer ein, ihre Sinne aufzusperren, den Stimmen zu folgen und sich auf die anstehenden Sinnesabenteuer einzulassen. Und zu fühlen, riechen, tasten und schmecken gibt es hier viel, schließlich geht es sprichwörtlich über Stock und Stein, zuerst dem Brückengeländer entlang in einen moosigen Wald, dann, an nassem Fels vorbei, bergauf und wieder bergab.

Wer sich zuerst eines Sinnes beraubt fühlt, entdeckt den sonst selten derart bewusst wahrgenommen Reichtum der anderen Sinne. Statt Desorientierung stellt sich dank der akustischen und haptischen Eindrücke schnell ein räumliches Gefühl für die Umgebung ein. Kommt es dennoch einmal zu einem Stau beim Rundgang, stehen Jenny oder Reinhard, die zu jeder Zeit souverän den Überblick bewahren, hilfreich zur Seite.

Neustart durch Selbstständigkeit

Reinhard heißt mit ganzem Namen Reinhard Marth und zeichnet mit dem ebenfalls blinden Geschäftsführer Helmut Schachinger, Eva-Maria Kriechbaum und Mirjana Ostojic für die Neuauflage von "Dialog im Dunkeln" verantwortlich. Er war bereits 1992 mit dabei, als das vier Jahre zuvor von Andreas Heinecke in Deutschland ins Leben gerufene Projekt seine Österreich-Premiere erlebte. "Das war es für mich", so der heute 51-Jährige, der damit nach der Arbeit unter anderem als Telefonist seinen Idealberuf gefunden hatte.

Als die Österreich-Ausgabe, die zuletzt in der Wiener Stadthalle gastierte, im vergangenen Jahr eingestellt wurde, wagten vier ehemalige Mitarbeiter den Schritt in die Selbstständigkeit. "Zwei Blinde und zwei Frauen, was soll das?", schildert Marth die Skepsis, die den Jungunternehmern bisweilen entgegenschlug, sie aber auch anspornte, "es erst recht zu versuchen". 21 Personen, elf davon blind oder sehbehindert, sind jetzt bei "Dialog im Dunkeln" im Schottenstift beschäftigt.

Alltagsprobleme

Mit Herausforderungen werden auch die Teilnehmer des Rundgangs im Dunkeln konfrontiert. Das simulierte Überqueren einer befahrenen Straße, bei dem schnell die Zeit zu kurz wird, macht die Probleme des blinden Alltags fühlbar. Dafür wartet der Gang ins Kaufhaus mit "greifbaren" Waren am Geschäftstisch auf. Bei einer mit Fahrtwind und Wellenbewegungen vermittelten Bootsfahrt sind die Schüler in ihrem Element, es wird gekreischt vor Vergnügen.

Für die Führung im Dunkeln gibt es kaum Einschränkungen. "Wir empfehlen ein Mindestalter von sechs Jahren, aber es war auch schon jemand mit drei Jahren dabei", erzählt Reinhard Marth. Auch Rollstuhlfahrer waren bereits unter den Teilnehmern und können dieselben Eindrücke sammeln wie Menschen ohne Behinderung. Außer der Führung durch die Ausstellung in völlig lichtlosen Räumen werden zudem ein "Dinner im Dunkeln" in Form eines viergängigen Menüs und Seminare für Schüler und Firmen angeboten.

Afrikanischer Markt und Unsicht-Bar

Gegen Ende der Führung wartet mit dem Gang auf einen afrikanischen Markt ein wahres Fest der Sinne auf. Hier dürfen Gewürze und Nahrungsmittel gefühlt und gerochen, das eigene Expertentum auf die Probe gestellt werden, bevor es zum Abschluss in die "Unsicht-Bar" geht. Bei antialkoholischen Getränken wird über das in der letzten Stunde Erlebte geplaudert.

Die Schüler haben, in ihrer Wissbegierde durch den absolvierten Rollentausch deutlich angespornt, noch jede Menge Fragen an Reinhard. Ob er eine Frau habe und Kinder? "Ja, ich habe sie bei einem 'blind date' kennen gelernt", bringt er die Zuhörer zuerst einmal zum Lachen, um zu erzählen, dass seine ebenfalls blinde Partnerin einst eine Arbeitskollegin war und in Innsbruck lebt, weshalb er mit der Bahn zwischen Tirol und Wien pendelt. Ob es nicht schwer sei, blind Kinder aufzuziehen? "Nein, weil da geht es ja viel um Handarbeit", und man habe auch hilfreiche Nachbarn gehabt. Reinhard Marths Kinder, die beide sehen, sind heute 25 und 28 Jahre alt.

Wer bei den Gesprächen in der Dunkelheit zwischendurch auf der anderen Seite der Bar die Frage, "schaust du mal, ob noch Kaffee da ist?", hört, erliegt übrigens keineswegs einer Sinnestäuschung. "Auch wir benutzen diesen Begriff", betont die blinde Jenny. Dass Schauen im Sinne von Erkennen nicht zwangsläufig einen intakten Sehsinn zur Voraussetzung hat, ist zumindest den Teilnehmern des "Dialogs im Dunkeln" längst klar. (Karl Gedlicka, derStandard.at, 4. November 2009)