"Digitale Medien sind nicht mit Gesundheitsrisiko gleichzusetzen, sie machen nicht krank", sagt Medienwissenschaftler Christoph Klimmt.

Foto: Irene Hahn

Vom Begriff "digitale Demenz" hält der Medienwissenschaftler Christoph Klimmt nicht viel. Was ihn daran stört, wieso medizinische Studien nicht immer für bare Münzen gehalten werden sollten und warum digitale Medien zu einem Informations-Overkill führen, erklärt er im Interview mit derStandard.at.

derStandard.at: Baut das Gedächtnis durch die zunehmende Nutzung des Internets ab?

Klimmt: Das Gedächtnis lebt davon, im Alltag regelmäßig trainiert zu werden. Digitale Medien können dazu führen, dass Gedächtnisleistungen quasi ausgelagert werden. Google wird nicht als Suchmaschine genutzt, sondern als Navigator für persönliche Daten. Benutzer müssen sich Informationen nicht mehr merken, sondern nur wissen, wo sie diese finden.

Das hat aber eigentlich nichts mit "digitaler Demenz" zu tun. Ich sehe eher das Problem, dass wir uns zu viele Informationen zumuten. Mehr, als wir bewältigen können. Wie überfordern uns permanent selber, weil wir effizient die neuen Technologien nutzen wollen. 

derStandard.at: Das betrifft vermutlich auch den Bereich der Social Media?

Klimmt: Viele Publizisten haben diese Hypergeschwätzigkeit in Social Media beklagt. Was soll man mitteilen, was nicht? Das ist schon ein Informations-Overload, der zu einem Social Overload führt. Wenn jetzt etwa Jugendliche in der gleichen Zeit eigentlich lernen sollten, aber sich darüber austauschen, welchen Pullover sie anhaben, dann droht sozusagen ein Social Overkill.

Früher waren die Zeiten der Unterhaltungen über Nebensächlichkeiten beispielsweise auf Kaffeepausen beschränkt. Schwierig wird es da, wo ernsthafte Konsequenzen erwachsen, wenn etwa Jugendliche ihre Ausbildung vernachlässigen und reale Lebenschancen versäumen. Außerdem stellt dieser permanente Zustrom an Information eine Bewältigungsanforderung dar, mit der man umgehen können muss. Das ist also wieder das Gegenteil von Einsamkeit, die Manfred Spitzer propagiert: Social Overload kann zu Stress führen. 

derStandard.at: Spitzer behauptet unter Berufung auf Studien, dass Erwachsene durch die Mediennutzung immer häufiger Gedächtnisstörungen entwickeln. Wie wissenschaftlich ist seine Argumentation?

Klimmt: Vieles ist mit Einzelstudien nicht belegbar. Wenn in Südkorea in einer Umfrage die Menschen über Gedächtnisstörungen klagen, dann mag das vielleicht für die Befragten gelten - für andere möglicherweise nicht. Außerdem ist es schwierig, länderübergreifend Schlussfolgerungen zu ziehen, weil Gesellschaften unterschiedlich funktionieren. Gute Erkenntnisse lassen sich nicht mit Einzelstudien erreichen. Gerade im medizinischen Bereich finden Studien statt, die einen Blickwinkel haben, der sehr hemdärmelig ist. 

derStandard.at: Was bedeutet das konkret?

Klimmt: Es gibt unterschiedliche Studienansätze je nach Forschungsdisziplin. Klassische medizinische Studien prüfen die Wirkung von Medikamenten. Entweder sie wirken, oder sie wirken nicht. Ich kenne Studien, die nach der gleichen Logik arbeiten, auch wenn sie andere Forschungsziele haben. Etwa wenn sie den Gebrauch von Medien untersuchen.

In den USA wurde beispielsweise angeschaut, ob sich die Schulleistungen von Kindern verbessern, wenn sie vier Wochen nicht fernsehen. Ihre Schulleistungen wurden tatsächlich besser. Aber ob das mit dem Fernsehen zu tun hat oder möglicherweise auch mit einer Sensibilisierung der Eltern und einer Anpassung der Kinder, weil sie sich anders beschäftigen mussten - diese Fragen kann so eine Studie nicht beantworten. 

derStandard.at: Was ist mit den Studien, die Spitzer in seiner Argumentation anführt?

Klimmt: Auch wenn die Studien sauber durchgeführt wurden, das Hauptprobleme ist die Auswahl der Studien, die Spitzer für seine Argumentation verwendet, und wie er Schlussfolgerungen zieht. Er nimmt nur sehr selektiv Ergebnisse wahr, die mit seinen vorher aufgestellten Thesen im Einklang stehen. Damit entsteht ein unausgewogenes Bild. Zuerst Schlussfolgerungen zu ziehen und dann die Forschungsergebnisse dazu zu finden ist kein wissenschaftliches Arbeiten. 

derStandard.at: Es gibt umgekehrt aber auch Studien, die positive Effekte der digitalen Medien zum Gegenstand haben. 

Klimmt: Ja, es gibt nicht umsonst in der Pädagogik gewaltige Anstrengungen, aus den neuen Medien einen Nutzen zu erzielen, etwa über Serious Games. Über Computerspiele zu lernen, sich beruflich weiterzuentwickeln ist ein erfolgreiches Konzept. Das soziale Kapital kann über soziale Netzwerke verbessert und erweitert werden. Viele Menschen, die in Offline-Kontexten an den Rand gedrängt werden, weil sie anders als die Norm sind, haben es über soziale Netzwerke einfacher, gleichgesinnte Menschen zu finden.

Es geht darum, sich mit Menschen zu verbinden, die ähnliche Probleme haben. Vor dem Computer zu sitzen muss außerdem nicht passiv sein, wie häufig gesagt wird: Angewandte Problemlösung oder der Austausch mit Freunden in sozialen Netzwerken sind hochgradig aktive Handlungen. Im Übrigen: Jemand, der ein Buch liest, sieht dabei auch nicht klüger aus als jemand, der vor dem Computer sitzt. 

derStandard.at: Welche Risiken sehen Sie in der Nutzung von digitalen Medien?

Klimmt: Risiken sehen wir in der erheblich erleichterten Herstellung von Kontakten zu problematischen Botschaften, etwa über Online-Plattformen wie "Youporn", die kostenlos ist. Oder rechtsextreme Akteure, die im Internet Propaganda betreiben - das lässt sich nicht so einfach verhindern. 

derStandard.at: Soziale Netzwerke beeinträchtigen laut vielen Kritikern das Sozialverhalten. 

Klimmt: Die Vereinsamungsthese hat einen Geburtsfehler: Es wurde nicht geschaut, aus welchen Kontakten das soziale Netzwerk besteht. Das ist fast immer Kommunikation unter Menschen, die sich schon offline kennen und online weiter miteinander kommunizieren. Eine Erweiterung von Freundeskreisen um Personen, die man nicht kennt, ist die Ausnahme. Facebook und Co. unterstützen Freundschaften, die es schon gibt. Das ist also hochgradig sozial.

Berufsbezogene Netzwerke sind anders, weil das Knüpfen neuer Geschäftskontakte hier ein wichtiges Element ist. Es ist also falsch zu sagen, dass sich Leute durch Facebook isolieren, das trifft nicht zu. Es ist nur eine andere Form der Kommunikation. Zusätzlich können sozial eher ängstliche Menschen online vorsichtig den Kontakt zu Menschen steuern, die Gespräche gut dosieren. Also etwa zuerst chatten, dann telefonieren, dann videotelefonieren. 

derStandard.at: Manfred Spitzer sieht einen Zusammenhang zwischen digitalen Medien, Depressionen und zunehmender Gewaltbereitschaft.

Klimmt: Digitale Medien sind nicht mit Gesundheitsrisiko gleichzusetzen, sie machen nicht krank. Das macht aber Spitzer. Und das ärgert mich. Ich sehe nicht, wie das funktionieren soll, dass jemand, der frei von Depressionen ist, durch die Nutzung von digitalen Medien in Depressionen getrieben wird - außer er wird gemobbt. Aber das passiert auch offline, etwa auf dem Schulhof. Ich sehe dieses krankheitsverursachende Potenzial der digitalen Medien nicht.

Früher ging es um Gewalt und Fernsehen, jetzt geht es um Gewalt und Computerspiele. Die Wirkungsforschung sagt zwar, dass das intensive Computerspielen es wahrscheinlicher macht, aggressiv zu werden, der Effekt ist aber vergleichsweise schwach. Es ist nicht so, dass alle, die Ego-Shooter spielen, zu Amokläufern werden. Da spielen viele Faktoren wie die Persönlichkeitsentwicklung eine Rolle. Es sollten daher keine einfachen Formeln über die Wirkung gedroschen, sondern Chancen und Risiken objektiv bemessen werden. Immerhin profitieren wir auch von digitalen Medien. Und die Aussage, dass Bildschirmmedien nicht in Kinderhand gehören, ist realitätsfern. 

derStandard.at: Was ist mit der Computersucht? Wie ernst ist diese zu nehmen?

Klimmt: Psychiater haben ja immer mit den Extremfällen zu tun. Einzelfälle gibt es da schon. Aber die Zahlen, die veröffentlicht werden, sind übertrieben. Christian Pfeiffer vom Kriminologischen Forschungsinstitut in Hannover hat in einer Studie gemeint, dass 600.000 deutsche Jugendliche computersüchtig sind. Andere Studien, die eine angemessene Vorsicht walten lassen, sagen, dass ein bis fünf Prozent der Computerspielnutzer ein Problem mit Spielgebrauch haben könnten. Psychologen gehen davon aus, dass zehn Prozent der Bevölkerung aufgrund von psychischen Erkrankungen therapiert gehören, dann wäre diese Zahl der Computersüchtigen weitaus weniger schlimm.

Die meisten Ärzte, die mit Internetsüchtigen zu tun haben, gehen außerdem davon aus, dass kein psychisch stabiler Charakter zu einem Suchtkranken wird, weil er "World of Warcraft" spielt. Wenn allerdings Angststörungen oder Depressionen mit dem Interesse an neuen Medien zusammenkommen, kann die Mediennutzung ein Problem werden. Exzessiver Mediengebrauch ist dann aber keine eigene Erkrankung, sondern eine Folge einer psychischen Störung. (Sophie Niedenzu, derStandard.at, 13.11.2012)