Brian Evenson: "Immobility"
Gebundene Ausgabe, 253 Seiten, Tor Books 2012
Es gibt so Bücher, bei denen man zur Handlung am besten gar nichts verraten sollte, um den vom Autor gewünschten Effekt nicht zunichte zu machen. Soll heißen: Mit absolut null Vorwissen werden wir in eine Welt geworfen, die sich uns in der Folge Enthüllung um Enthüllung langsam erschließt. Brian Evensons jüngster Roman "Immobility" setzt von Seite 1 an voll und ganz auf diesen Effekt. Ein Rezensent, der das würdigen will, steht damit natürlich vor einem Problem. Also machen wir's so: Wer Details erfahren möchte, möge die weiteren Absätze lesen - wer hingegen bereit ist, ein Buch auf gut Glück zu kaufen, soll nach einem einzigen Teaser weiterklicken. Nämlich diesem: "Immobility" ist der richtige Roman für alle diejenigen, die Cormac McCarthys "Die Straße" mochten.
Spoiler-Grenze, so früh wie nie
Und jetzt die Details für die Neugierdsnasen. Eines Tages erwacht Hauptfigur Josef Horkai orientierungs- und erinnerungslos aus dem Kälteschlaf. Er weiß, dass es einen weltweiten Kollaps gegeben hat, aber nicht, was er davor gewesen ist. Seine neue Umgebung jedenfalls ist ein verfallender Uni-Campus, bewohnt von einer kleinen Gemeinschaft Überlebender, die als "Hive" organisiert sind. Anführer Rasmus hat Josef aufgetaut, weil er auf eine Expedition geschickt werden soll - und zwar geht es darum, einen Behälter mit Samen zurückzuholen, der der Gemeinschaft gestohlen wurde.
Es scheint grotesk, ausgerechnet Josef für diese Mission auszuwählen, immerhin ist er querschnittgelähmt (wiederum ohne zu wissen, wie es dazu kam). Aber er scheint auch über erstaunliche körperliche Kraft zu verfügen - so große, dass er den anderen Angst macht. Vor allem aber verträgt er als einziger die Bedingungen der Außenwelt, ohne einen Schutzanzug tragen zu müssen; offenbar handelt es sich dabei um radioaktive Strahlung, auch wenn das Wort im ganzen Roman nie fallen wird. Die Lösung: Josef muss abwechselnd von den beiden Brüdern Qanik und Qatik, die sich als "Mulis" bezeichnen, getragen werden. Zwischen den beiden stoisch ihre Aufgabe erfüllenden Trägern und ihrer stets alles in Zweifel ziehenden "Last" Josef wird sich eine ganz eigene Dynamik entwickeln.
Auf der Straße
Und so begibt sich das Trio auf einen surrealen Trip. Um sie herum der trostloseste Anblick, den man sich ausmalen kann: Keine Tiere, keine Pflanzen, nur Staub und Ruinen. Outside was a ravaged landscape, ruin and rubble stretching in every direction, the ground choked in dust or ash. Remnants of buildings, mostly collapsed. The sky was bleak with haze, and a wind blew, hot and indifferent. All of it was pervaded by a strange, unearthly silence.
Nicht nur die vollkommene Leblosigkeit dieser Welt erinnert an McCarthys "Straße". Auch der lakonisch-minimalistische Stil, in dem "Immobility" erzählt wird, ist ähnlich. Wie McCarthy ist auch US-Autor Brian Evenson an der Grenze von Mainstream- und Genreliteratur zuhause. Typisch für solche Grenzgänger ist, dass sie den nach Erklärung lechzenden Genre-LeserInnen nicht mit Infodumps entgegenkommen, "wie es denn überhaupt zu all dem kommen konnte". Erinnert man sich in "Die Straße" an die Apokalypse nur als rosigen Lichtschein, so ist hier von einem nicht minder vage bleibenden blast die Rede.
Im Nirgendwo
Beide Romane setzen auf ein gewisses Level an Abstraktion - wie um zu unterstreichen, dass ihre philosophischen Anklänge Allgemeingültigkeit beanspruchen. Ganz banal gefragt: Wo sind wir eigentlich? Schwer zu sagen. Im Verlauf von "Immobility" mehren sich die Indizien, dass es der übliche US-amerikanische Hintergrund ist. Die Namen der Romanfiguren - Josef Horkai, Rasmus, Oleg, Olaf, Qanik, Qatik usw., später kommen noch Personen mit Pseudonymen aus verschiedenen Sprachen hinzu - scheinen dem jedoch zu widersprechen.
Und die Orientierungslosigkeit geht noch eine Ebene tiefer. Mehrfach fällt Josef unterwegs in einen Zustand der Bewusstlosigkeit. A sensation of coming back to life, only not quite that: half life maybe. Still utter darkness, though perhaps a faint hint of light on the horizon. A swirl of memory and imagination, a swath depicting a past, real or imaginary, smeared across the inner walls of his skull. Wenn er wieder erwacht, hat er den Faden verloren. Glaubt sich auf eine längst absolvierte Station seiner Reise zurückversetzt, fragt sich, wie er hierher gekommen ist - und hält es sogar für möglich, dass er immer noch träumend im Kälteschlaf liegt.
Empfehlung!
"Immobility" lebt vor allem von seiner Atmosphäre. Die ist in ihrer Eindringlichkeit am ehesten mit Filmsequenzen zu vergleichen, in denen der Regisseur alle Hintergrundgeräusche abgestellt hat und uns nur den Atem des Protagonisten hören lässt. Kein Film, nach dem man beschwingt nach Hause geht. Und was man nach dem Gesagten kaum noch glauben würde: Am Ende von "Immobility" werden alle offenen Fragen beantwortet werden, zumindest die, auf die es ankommt. Großartiger Schluss!