Kurt Bauer ist Historiker und freier Mitarbeiter des Ludwig-Boltzmann-Instituts für Historische Sozialwissenschaft. Ende März 2014 erscheint sein neues Buch über den 25. Juli 1934: "Hitlers zweiter Putsch" (Residenz Verlag).

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Kürzlich ging es wieder einmal um das unselige Dollfuß-Bild im Parlament. In einer kurzen Notiz im Standard lese ich dazu, Dollfuß habe 1934 das Bundesheer auf Arbeiter schießen lassen.

Man könnte den Vorgang auch anders beschreiben. Und zwar so: Das Bundesheer feuerte mit Artilleriegeschoßen - aus denen zumeist (aber nicht immer) die Sprengladungen entfernt worden waren - auf von der Gemeinde Wien errichtete Wohnhäuser, in denen sich schwer Bewaffnete verschanzt hatten. Und diese Bewaffneten (nämlich sozialdemokratische Schutzbündler) schossen ihrerseits auf alles, was sich in der Umgebung dieser Wohnhäuser regte. Nicht nur auf Polizei, Heer oder Heimwehr, häufig auch auf zufällig vorbeikommende Passanten, auf Bewohner von Nachbarhäusern und so weiter. So ist das nun mal im Straßenkampf.

Es traf, wen es eben traf: Altersrentner und Bundesbahnerwitwen, Spaziergänger, junge Mütter, Familienväter auf dem Weg zur Arbeit, ... Kollateralschaden nennt sich das seit einigen Jahren. Der Kollateralschaden des Februar 1934 war enorm. Die Hälfte aller Februaropfer in Wien waren Nicht-Kombattanten, die mit dem Aufstand nichts zu tun hatten, die einfach durch Zufall oder Unvernunft in die Feuerlinien gerieten.

Jawohl, es gab in der verzweifelten Situation von 1933/34 gute Gründe, die dafür sprachen, zu den Waffen zu greifen. Aber noch viel bessere Gründe gab es, es in der Kälte des Februar nicht zu tun. Daher hatten sich die allermeisten der älteren, gemäßigten sozialdemokratischen Politiker auch von alledem weit ferngehalten.

Jeder Tote sei einer zu viel gewesen, verkündete der Historiker und EU-Abgeordnete der SPÖ Josef Weidenholzer kürzlich. Und weiter: "Wir sollten aber auch ganz klar sagen, dass diese Leute die Demokratie bis zum Äußersten verteidigt haben." Bei Otto Bauer, dem intellektuell brillanten, aber stets zaudernden Führer der Sozialdemokratie hörte sich das 1934 ganz anders an. Es sei ein Missverständnis, schrieb er, dass die Wiederherstellung der "bürgerlichen Demokratie von gestern" das Ziel der erneuerten Sozialdemokratie sei. Die Partei könne jetzt nur noch für die "Diktatur des Proletariats" kämpfen.

1934 als Gründungsmythos

Kurzum, gegen den bigotten Halbfaschismus des Dollfuß erhob sich nach dem Februar eine Hydra aus Nationalsozialismus und Halb- und Voll-Kommunismus. - Als Verteidiger und Vorkämpfer für eine parlamentarische Demokratie sahen sich wohl nur die wenigsten Februarkämpfer. Damals.

Einsicht stellte sich erst später ein. Nämlich 1945, als die Entscheidung anstand zwischen Kommunismus Stalin'scher Prägung und westlicher Demokratie. Und so kam es, dass das Fahnenwort "Demokratie" ab nun auf die Gedenktafeln gemeißelt wurde.

Nach 1945 kam auch das Reden vom "Bürgerkriegsjahr 1934" auf. Nach allen Definitionen heutigen Völkerrechts ist die Anwendung dieser Bezeichnung auf die kurzzeitigen bewaffneten Unruhen von 1934 unzutreffend. Aber das Reden vom Bürgerkrieg hatte durchaus seinen tieferen Sinn. Es war (und ist) nämlich die große Legitimationslegende für die 1945 eingerichtete Dauerkoalition der beiden großen Parteien. Neben dem "Geist der Lagerstraße" wurde der "Bürgerkrieg" zu einem der wichtigsten Gründungsmythen der Proporzdemokratie, die ihre bleiernen Strukturen jahrzehntelang über das Land legte.

All die Gedenktafeln, Mahnmale, Erinnerungszeichen ... Eine kleine Tafel nur würde ich gerne sehen an einem Haus in Floridsdorf. Eine Tafel für Arnulf Hanzl. Knapp sechs Jahre war er alt an jenem 13. Februar 1934, als er spielend am Küchentisch saß. Um 16.45 Uhr stand er auf, um im Kabinett ein Bilderbuch zu holen. Das war seine letzte Bewegung. Der Schuss durch das geschlossene Fenster traf ihn direkt in den Mund. Er starb an Ort und Stelle. Vor den Augen seiner Mutter. Ein in der Nähe postierter Schutzbündler soll es gewesen sein, heißt es in einem Polizeibericht. Stadthauptmann Petri sprach später von einer Gruppe Jugendlicher, wohl Kommunisten. Mit Gewehren seien sie herumgezogen und sollen auf alle Fenster geschossen haben, hinter denen sich Menschen gezeigt hätten.

Der kleine Arnulf jedenfalls starb seinen kleinen, sinnlosen Tod. Nicht für Freiheit und Demokratie und Arbeiterrechte, nur für ein Bilderbuch. Auch das ist eine Wahrheit, eine von vielen verdrängten, vergessenen Wahrheiten des 12. Februar. (Kurt Bauer, DER STANDARD, 8.2.2014)