Aus einem geradlinigen Stück Holz ein rechtwinkliges zu machen: Auf dieser Technik fußen die meisten Möbelentwürfe von Alvar Aalto.

Foto: www.artek.fi
Foto: www.artek.fi

Alvar Alto wurde für seine gleichermaßen funktionalistische wie heimelige Bauweise bekannt.

Foto: www.artek.fi

Viele Möbelentwürfe von Alvar Aalto werden auch heute noch von Artek hergestellt: in der Mitte der berühmte Paimio-Sessel, ganz unten der Hocker 60.

Foto: www.artek.fi

Der Sessel ist leicht nach hinten gekippt. Setzt man sich rein, dann geht der Blick in den Himmel. Zu den Schäfchenwolken über dem unendlichen finnischen Nadelwald. So weit die Theorie. In der Praxis darf man höchstens für einen kurzen Moment über den Lehnsessel Nummer 41, der hier im zweiten Stockwerk des Sanatoriums in Paimio steht, streichen. Hineinsetzen ist nicht. Schließlich ist es der letzte Originalsessel aus dem Jahre 1932.

Seinem Schöpfer hat er Weltruhm gebracht. Natürlich nicht nur der Sessel selbst. Die Lampen. Die Waschbecken. Die an Särge erinnernden Wandkästen (sie wurden allerdings von den Bewohnern des Sanatoriums abgelehnt). Der von einer riesigen Glasfront begrenzte Speisesaal. Die Liegeetage am Dach. Kurzum: Das Sanatorium in Paimio war Anfang der Dreißigerjahre des letzten Jahrhunderts nichts weniger als ein Manifest. Und katapultierte den damals noch blutjungen Architekten und Möbelentwerfer Alvar Aalto (geboren 1898) in die erste Riege sozialreformatorisch denkender Gestalter.

Bis zu seinem Tod im Jahre 1976 sollte er der bei weitem wichtigste finnische Architekt bleiben. Jener, der die Ideen des Bauhaus-Stils und des Deutschen Werkbunds mit der geschwungenen skandinavischen Formensprache in Einklang brachte. Und dabei maßgeblich auf die Verwendung von Holz setzte. Auch heute noch ist es in dem Land schwer, um Alvar Aalto einen Bogen zu machen. In Helsinki haben sie sogar eine Uni nach ihm benannt.

Funktional, aber heimelig

Ende der Zwanzigerjahre war Aalto noch ein ziemlicher Jungspund. Auf der Hochzeitsreise mit seiner Frau Aino (sie sollte später für viele Designs verantwortlich sein) hatte er in Italien die Formensprache der klassischen Baumeister aufgesaugt. Ihren Umgang mit Licht. Er lernte Le Corbusier kennen, Fernand Léger und László Moholy-Nagy. Als er den Wettbewerb um den Bau des Sanatoriums in Paimio gewann (die Stadt liegt etwa zwei Stunden von Helsinki entfernt), legte er damit den Grundstein für seine gleichermaßen funktionalistische wie heimelige Bauweise.

Dem langen finnischen Winter, dem wenigen Licht, setzte er Gebäude und Einrichtungsgegenstände entgegen, die viel Wärme ausstrahlen. Die hatten die Bewohner von Paimio auch nötig. Wer in Finnland an Tuberkulose erkrankte und über das nötige Kleingeld verfügte, der reiste zur Behandlung in die Schweiz. Der Rest quartierte sich inmitten finnischer Wälder im Sanatorium in Paimio ein. Licht, Sauberkeit und eine gute Luft waren jene Elemente, die ihr Leiden lindern sollten. Der berühmte Paimio-Sessel war etwa so konstruiert, dass man darin bestmöglich atmen konnte. Heute ist das Sanatorium ein Rückzugsort für Familien mit behinderten Kindern. Und auch wenn viele Aalto-Elemente über die Jahre hinweg adaptiert werden mussten, den offenen Geist ihres Schöpfers atmet das Gebäude immer noch.

Ein paar Autominuten entfernt, gleich in der Nähe von Turku: Der Nadelwald reicht auch hier bis an das Fabriksgelände heran, in der Kantine wird gerade das Mittagessen serviert. Einige Jahre nachdem sich Aalto mit dem Sanatorium von Paimio einen Namen gemacht hatte, gründete er zusammen mit drei Mitstreitern Artek, jene Firma, die auch heute noch seine Möbel- und Lampenentwürfe fertigt, die bei ihrer Gründung aber weit mehr als nur eine Möbelfirma war. Artek ging es darum, "die moderne Wohnkultur zu fördern", man veranstaltete Vorträge und Ausstellungen, diskutierte die revolutionären Lebensentwürfe der Zeit. "Aalto vertrat immer einen gesamtheitlichen Zugang", sagt Marianne Goebl, die seit zwei Jahren mindestens einmal im Monat nach Finnland kommt.

Seitdem sich Artek in der Hand des Schweizer Möbelriesen Vitra befindet, liegen die Geschicke der Firma in der Hand der Österreicherin. "Als Artek verkauft wurde, war das für viele Finnen ein Schock", erzählt sie. Artek, das ist für die Finnen in etwa so wie die Sachertorte für Österreicher. Ein Teil der nationalen Identität. Nichts läge Goebel ferner, als an ihr zu kratzen. "Das hier ist der Reichtum, aus dem Artek schöpft", sagt Goebl auf dem Vorplatz des Fabrikgebäudes in Turku und zeigt auf die vielen Birkenholzstämme, die hier gestapelt liegen.

Das Holz kommt aus Mittel- und Ostfinnland, zwölf Monate muss es trocknen, bis es verarbeitet wird. Wobei verarbeiten in erster Linie verbiegen bedeutet. Die Technik, aus einem Stück geradlinigen Holz ein rechtwinkliges zu machen, ist das, womit der Designer Aalto neben seinen funktional-harmonischen Entwürfen in die Design-Lehrbücher eingegangen ist. Das Holz wird eingeschnitten, Leisten werden eingeklebt, unter Wärme wird das Stuhl- oder Tischbein sodann verbogen.

An diesem Tag sind es in erster Linie die Beine des Hockers "60", die von den Arbeitern in die diversen Maschinen geschichtet werden. 2.500 Hocker hat ein japanischer Auftraggeber bestellt. 24 Arbeitsschritte sind nötig, bis aus einer finnischen Birke ein Designklassiker entsteht. Neben der berühmten amöbenförmigen Glasvase aus dem Jahr 1937, die bis heute von Iittala hergestellt wird, ist der "Stool 60" wohl der populärste Aalto-Entwurf.

Aaltos Büro mit Amphitheater

Auch an der Adresse Tiilimäki 60 im hübschen Wohnviertel etwas außerhalb des Stadtzentrums von Helsinki sind ein paar Exemplare zu bewundern. Hier, unweit von seinem eigenen Wohnhaus, befand sich Aaltos Büro. Im Garten ein kleines Amphitheater, rundherum sind Arbeits- und Ausstellungsräume gruppiert. Bis zu 30 Leute haben hier einst gearbeitet. Riesige Fenster holen den Garten ins Büro, die Kantine ist ein Musterbeispiel für eine extrem durchdachte Küchenarchitektur. Gemeinsam habe man hier tagtäglich gegessen, erzählt die Mitarbeiterin, die durch das Studio führt. Alvar Aalto sei immer ganz hinten, in der Ecke, gesessen – dort, wo er alles im Blick gehabt habe.

Heute werkt hier die Alvar-Aalto-Foundation, die das reiche Erbe des finnischen Architekten verwaltet. Modelle realisierter und unrealisierter Bauwerke stehen in dem von Tageslicht durchflutetem Obergeschoß, darunter auch ein Modell für die Wiener Stadthalle. Für seinen Entwurf in Muschelform wurde Aalto zwar der erste Preis zugesprochen, realisiert wurde dann allerdings jener von Roland Rainer. Dessen Stühle gingen bekanntlich auch in die Designgeschichte ein. Allerdings in jene von Österreich. (Stephan Hilpold, 23.12.2015)