Alessandro Mendini nimmt im Schauraum des Einrichtungshauses Prodomo in der engen Wiener Naglergasse Platz. Hier wird ihm am Abend anlässlich einer Präsentation seines Werkes die Wiener Design- und Architekturszene ihre Aufwartung machen. Der 1931 in Mailand geborene Mendini ist ein sehr kleiner Mann, dennoch hat er die Ausstrahlung eines Sirs.

Fast möchte man sich vor ihm verneigen. Er trägt eine rote Cordhose, einen pistazienfarbenen Pullover und dunkelblaue Sneakers. Für das Gespräch sucht er sich jenes Sofa im Showroom aus, das ihm am unbequemsten erscheint. So lässt es sich besser reden, meint er.

Die wohl bedeutendste Ikone, die Alessandro Mendini schuf, ist sein "Proust"-Sessel, den es mit unterschiedlichen Oberflächen gibt. Mit dem Barockfauteuil begann er 1978 eine Möbelserie sogenannter Redesigns, in der er Dekor und Form bereits vorhandener Entwürfe neu interpretierte.
Foto: Carlo Lavatori / Magis

STANDARD: Sie sprechen sehr gut Deutsch. Wie kommt das?

Alessandro Mendini: Ich spreche sehr schlecht Deutsch, ehrlich. Aber wie Sie meinen. Gleich um die Ecke des Hauses, in dem ich in Mailand aufgewachsen bin, war eine deutsche Volksschule. Damals war die Zeit, in der man in Italien Deutsch lernte.

STANDARD: Gut 75 Jahre später sind Sie neben Dieter Rams und Enzo Mari einer der Grandseigneurs der Designwelt.

Mendini: Rams und Mari sind ziemlich genau gleich alt wie ich, wir sind alle ein Stück über 80. Enzo Mari besuche ich jede Woche in Mailand. Seit er gestürzt ist, geht es ihm nicht besonders gut, aber wir unterhalten uns regelmäßig über die Dummheiten in der Welt.

STANDARD: Welche Schlüsse ziehen Sie aus dem Zustand der Welt?

Mendini: Schauen Sie doch nur in die Zeitung. All die Gewalt, die Kriege, die wirtschaftlichen Probleme.

STANDARD: Ihre Prognose?

Mendini: Ich versuche, optimistisch zu bleiben und auch mit meiner Arbeit Optimismus auszudrücken. Meine Objekte sollen positive Energie ausstrahlen, romantisch sein. Als ich begann, als Designer zu arbeiten, war ich sehr pessimistisch. Mit zunehmendem Alter habe ich mir vorgenommen, optimistischer zu werden.

STANDARD: Wenn Sie ein paar Jahrzehnte zurückblicken, was war früher besser in Sachen Design?

Mendini: Jetzt könnt ich Ihnen vom Aufbruch in den 50er-Jahren erzählen, von der Energie, die damals existierte, von den Architekten, die begannen, Objekte zu gestalten, vom Zeitalter des Redesigns, von allen meinen Freunden etc. Es ist aber nicht mein Ding, zurückzuschauen und zu sagen: Damals war alles besser. Jede Zeit ist interessant, und ich habe in jeder Zeit etwas Interessantes für mich gefunden. Das gilt auch für die Gegenwart. Jede Zeit hat ihre eigene Identität.

STANDARD: Welche Identität hat das Jahr 2015?

Mendini: Die Identität unserer Zeit ist das Internet, die Virtualität, die Möglichkeiten der Kommunikation. Auch die Produktionsmöglichkeiten sind heute ganz andere. Die Möbelindustrie hat große Probleme, also produzieren viele junge Designer einfach selbst, auch mit 3-D-Druckern. Das ist spannend.

STANDARD: Mögen Sie diese Maschinen?

Mendini: Ja, ich arbeite selbst mit ihnen. Und das ist gar nicht so leicht, wie es klingt. Mir gefällt diese Identität. Es ist eine neue Vision von Handwerk. Also auf der einen Seite haben wir Riesenkonzerne wie Apple oder Samsung, auf der anderen eine neue Art von Design und Handwerk.

"Macaone" wird Mendinis Tisch aus dem Jahr 1985 genannt. Der Designer dachte dabei an eine Neuinterpretation des italienischen Interior-Designs der 1950er-Jahre, gemixt mit der Farbenfreude der 1980er-Jahre.
Foto: Prodomo

STANDARD: Italien war einst eine Weltmacht in Sachen Design. Heute ist das nicht mehr so. Warum?

Mendini: Es stimmt, wir sind nicht mehr die Nummer eins. Das liegt daran, dass mittlerweile sehr viele Orte auf diesem Planeten in Sachen Design eine neue Identität ausbildeten. Was es einst in Mailand gab, das existiert nicht mehr. Außerdem fehlen die Meister von damals, denken Sie nur an Ettore Sottsass oder Vico Magistretti. England hat Jasper Morrison, Deutschland Konstantin Grcic, Australien Marc Newson, Frankreich Philippe Starck.

STANDARD: Sie sind ein Meister!

Mendini: Ja, aber ich bin sehr alt. Meine Geschichte ist zu Ende.

STANDARD: Sie haben gerade die Samsung Smartwatch "Gear S2" mitentworfen.

Mendini: Ich bin 84.

STANDARD: Gibt es etwas, das Sie nie entworfen haben, aber gern getan hätten?

Mendini: Eigenartig, das fragt man mich in letzter Zeit öfter.

STANDARD: Sie sind 84.

Mendini: Ich habe keine Antwort auf diese Frage. Ich hätte nie geglaubt, dass ich einmal an einer Smartwatch arbeiten würde. Die Arbeit kommt von selbst zu mir. Wenn Sie wissen wollen, ob ich einen Wolkenkratzer entwerfen möchte, dann lautet die Antwort: nein.

STANDARD: Sie haben ein unglaublich vielseitiges Designwerk geschaffen, das auch durch seine extravagante Oberfläche auffällt. Dennoch sagen Sie: "Dekoration ist wie die Fische im Meer. Sie sind dort, auch wenn Sie sie nicht sehen können". Muss Dekoration also erfühlt werden?

Mendini: Ich glaube, Menschen versuchen immer ein Alphabet, eine Sprache zu finden. Ein Objekt kann man sehen und benützen, man muss es aber auch lesen können, so wie ein Bild. Objekte müssen literarisches Leben ausdrücken. Nehmen Sie meinen "Proust"-Fauteuil. Der Sessel, den es in unterschiedlichen Varianten gibt, ist ein Roman.

STANDARD: Aber lesen muss man zuerst lernen. Das Bewusstsein für Design ist gerade hierzulande oftmals nicht besonders ausgeprägt.

Mendini: Ich denke, das Bewusstsein für Design ist allgemein stärker geworden. Die Menschen kaufen auch nicht mehr so viel Kitsch wie früher. Sie kaufen bewusster. Es liegt auch an den Geschäften, an deren Angebot. Wenn ich kein gutes Design angeboten bekomme, kann ich es auch nicht kaufen ...

STANDARD: ... und lande bei Ikea. Was halten Sie von Ikea?

Mendini: Ikea ist ein Problem. Ich beziehe das allerdings weniger auf die Gestaltung der Produkte. Das Unternehmen macht es kleinen Betrieben einfach sehr schwer, wirtschaftlich mitzuhalten.

Aus verschiedenen Hölzern, die geometrische Muster bilden, besteht der Schrank "Schermo" (Porro, 2014).
Foto: Porro

STANDARD: Zurück zur Oberfläche. Wir sind hier in der Stadt von Adolf Loos. Er meinte, ornamentale Verzierungen und Ähnliches an einem Gebrauchsgegenstand seien eine ebenso unangemessene wie überflüssige Arbeit. Würden Sie mit ihm streiten, wenn er jetzt hier neben Ihnen auf dem Sofa säße?

Mendini: Nein, ich würde ihm sagen, dass er ein großartiger Architekt war. Ich schätze auch Menschen, die nicht meiner Überzeugung sind.

STANDARD: Und was sagen Sie Menschen, die Ihr Design als zu verspielt, zu poetisch, zu wenig funktional abtun?

Mendini: Gar nichts. Ich verstehe den Wunsch nach Minimalismus durchaus. Viele Leute wollen Schwarz-Weiß-Design, vor allem in der reichen westlichen Welt. In Afrika oder Mexiko ist das anders.

STANDARD: Warum?

Mendini: Weil die Menschen dort kein Geld haben. Sie finden positive Energie in Form von Farben, Mustern, in der Sonne.

STANDARD: Ein ikonisches Objekt von Ihnen ist der Korkenzieher "Anna G." von Alessi, ein fast kindisches Design.

Mendini: "Anna" ist nicht kindisch. Sie ist heiter, und etwas Heiteres muss nicht kindisch sein. Es gibt viele Objekte, die für Erwachsene ein Spielzeug sind. Nehmen Sie doch nur das Auto. "Anna G." ist sympathisch. Sie hat Augen, es geht um eine anthropologische Beziehung zwischen ihr und dem Benützer.

Manchen ist der Korkenzieher "Anna G." zu verspielt, für andere ist er eine Ikone in der Küchenlade (Alessi, 1994).
Foto: Alessi

STANDARD: Warum haben Sie nie etwas für Kinder entworfen?

Mendini: In diesem Falle hätte ich mich mit Didaktik und solchen Dingen auseinandersetzen müssen. Das hab ich lieber bleibenlasssen.

STANDARD: Philippe Starck schuf auch ein ikonisches Produkt für Alessi, seine Zitronenpresse "Juicy Salif ". Nicht wenige Menschen schimpfen, weil sie sich nicht dazu eignet, Zitronen zu pressen. Starck selbst weiß das auch, er kehrt den poetischen Wert des Objekts hervor. Was halten Sie davon? Wie viel Poesie auf Kosten von Funktionalität ist zulässig?

Mendini: Ich glaube, die Leute wissen schon, bevor sie die Presse von Starck kaufen, dass sie nicht wirklich funktioniert. Lassen Sie es mich so sagen: Wenn ein Objekt industriell gefertigt wird, soll es auch funktionieren. Bei experimentellem Design verhält sich das anders, das darf sehr wohl paradox sein.

STANDARD: Um was zu können?

Mendini: Meine Objekte sollen etwas zu sagen haben. Ich hab kein Problem damit, wenn sie nicht so gut funktionieren, solange sie eine Geschichte erzählen.

STANDARD: Darum schrieben Sie in einem Manifest: "Ersinne das Objekt nach seinem Erscheinungsbild und nicht nach seiner Funktion."

Mendini: Genau. Und: "Lasse mehrere Deutungen der Funktion zu".

STANDARD: Ihre Entwürfe sind nicht nur heiter. Sie sind auch provokant, ironisch, zynisch, radikal. Mitunter verändern Sie lediglich die Oberfläche eines Objekts und bringen es so in einen völlig neuen Kontext. Sind Sie eine Art Marcel Duchamp des Designs?

Mendini: Ich liebe die Arbeit von Marcel Duchamp. Meine Objekte sind wie ein Patchwork zu verstehen. Sie leben alle zusammen und haben trotzdem ihre eigene präzise Identität. Man könnte mein Werk auch mit Straßen vergleichen. Jedes Objekt ist eine Straße. Alle zusammen ergeben eine Stadt.

STANDARD: Im Vergleich zu vielen Ihrer Kollegen, die sehr programmatisch vorgehen, sind Sie ein Freigeist. Hat es ein Freigeist leichter oder schwerer?

Mendini: Er hat es schwerer. Nehmen Sie Dieter Rams her. Er befährt nur eine Straße. Ich hingegen bin in einem Labyrinth.

STANDARD: Sie lassen in Ihrer Arbeit sehr künstlerische Zugänge zu. Ist Kunst die große Schwester von Design?

Mendini: Es wäre schön, wenn sie die Mutter von Design sein könnte. Kunst ist die präziseste Möglichkeit, die Zukunft ein Stück weit verstehen zu können. Viel präziser als Design, Mode oder Architektur.

STANDARD: Sie waren unter anderem Chefredakteur der Zeitschrift "Modo" und Herausgeber von "Domus". Was hat Sie am Journalismus gereizt?

Mendini: Zeitungen haben mich immer schon fasziniert. Wenn ich von der Schule nach Hause kam, habe ich alle Zeitschriften, die sich mit Architektur und Design beschäftigten, richtiggehend gefressen. Es geht beim Journalismus, wie bei meinen Werken, um das erwähnte Patchwork. Der Chefredakteur hat einen großen Plan für das Heft, und viele andere Mitarbeiter befüllen es dann mit ihrem Input. So entsteht eine Collage, die am Ende wichtiger ist als der Plan des Chefs. Wie gesagt, viele Straßen sind gut.

STANDARD: Während der 80er-Jahre gehörten Sie zur legendären Memphis-Gruppe und kämpften unter anderem gegen sinnlosen, passiven Massenkonsum ... Wenn man sich umschaut, haben Sie diesen Kampf wohl verloren.

Mendini: Unsere Idee war es auch, eine menschlichere, weniger technologische Welt zu schaffen. Das war eine Utopie.

STANDARD: Waren Sie sich dessen bewusst?

Mendini: Ich hab immer mit Utopien gearbeitet. Für mich war auch der Futurismus sehr wichtig, allen voran der Künstler Fortunato Depero. All diese Bewegungen lassen sich am Ende mit einer Parabel vergleichen. Eine Parabel sieht aus wie ein Sternenzelt. Auch das Bauhaus beschreibt letztendlich eine Parabel.

STANDARD: Verraten Sie mir ein Objekt in Ihrem Haus, das Sie besonders gern haben.

Mendini: Meinen Bleistift.

STANDARD: Eines, das Sie nicht mögen.

Mendini: Eine Pistole.

STANDARD: Sie besitzen eine Pistole?

Mendini: Aber nein. In meinem Haus gibt es nur sehr wenige Dinge, die hauptsächlich von anderen Designern entworfen wurden. Sie funktionieren also gut. (Michael Hausenblas, RONDO, 20.11.2015)

Auch nicht gerade minimalistisch, der Beistelltisch "Sirfo" samt gelbem Schnabel (Zanotta, 1986).
Foto: Zanotta