Urvashi Butalia: Der Staat erkennt Frauen nicht als Bürgerinnen an.

Die Stärke von Indiens Frauenbewegung sei, dass sie Bündnisse quer durch das Land schaffe und ohne dominante Leitfiguren und einheitliche Philosophie auskomme, sagt die Historikerin Urvashi Butalia.

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STANDARD: Wir hören immer wieder von sexuellen Übergriffen bis hin zu Gruppenvergewaltigungen in Indien. Warum können sich Frauen beim Gewaltschutz so wenig auf den Staat verlassen?

Urvashi Butalia: Dafür gibt es viele Gründe. Theoretisch sollte es ein Vertrauensverhältnis zwischen Staat und Bürgern/Bürgerinnen geben. In der Praxis ist aber die Maschinerie, die Menschen vor Gewalt schützen sollte, nicht existent. Es gibt zwar die Gesetze, aber sie werden nicht umgesetzt. Und das führt zu der Frage, ob der Staat jemals die Absicht hatte, seine Bürgerinnen und Bürger zu beschützen. Das Zweite ist: Auf sexuelle Gewalt zu schauen ist in Indien zwar inzwischen weitverbreitet, aber wir müssen diese Aufmerksamkeit noch mehr kontextualisieren. Im Vergleich zu internationalen Statistiken sind die Zahlen bezüglich Vergewaltigungen in Indien nicht sehr hoch. Doch das heißt nicht viel, denn im Vergleich zu anderen Ländern kommt das indische Rechtssystem mit diesen Verbrechen überhaupt nicht zurecht. Gleichzeitig schafft es die Frauenbewegung, das Thema sexuelle Gewalt in der Öffentlichkeit zu halten – wir hören andauernd davon. Und nicht zuletzt liegt es daran, dass der Staat Frauen schlichtweg nicht als Staatsbürgerinnen mit ihren eigenen Rechten ansieht. Wie überall auf der Welt ist der Staat mehr daran interessiert, die eigenen Geschäfte zu schützen als Frauen, Immigranten oder Minderheiten. Ein Muster, das sich überall auf der Welt zeigt.

STANDARD: Die konkreten Gesetze gegen sexuelle Gewalt an Frauen sollen aber doch sehr gut sein.

Butalia: Ja, die Gesetzeslage selbst ist ziemlich gut, vor allem seit einigen Änderungen im Jahr 2012. Aber es gibt noch immer Probleme, zum Beispiel berücksichtigt das Gesetz keine Vergewaltigungen innerhalb der Ehe. Viele Frauenrechtsgruppen kritisieren, dass im aktuellen Gesetz einzig Frauen als Opfer von sexueller Gewalt definiert werden. Es erkennt keine Transgenderpersonen oder Männer als Opfer von Vergewaltigung an. Hier braucht es noch Nachbesserungen.

STANDARD: Seit der brutalen Gruppenvergewaltigung einer Studentin vor drei Jahren gibt es in Europa eine erhöhte Aufmerksamkeit gegenüber sexueller Gewalt in Indien. Hilft diese neue Sensibilität den Frauen in Indien bei ihrem Kampf gegen Gewalt?

Butalia: In mancher Hinsicht ist die internationale Aufmerksamkeit gut, aber in mancher ist sie auch schlecht. Im Kampf gegen sexuelle Gewalt ist sie insofern hilfreich, als sie den Blick auf andere Gesetzeslagen schärft und Aufschluss darüber gibt, wie andere Länder mit diesem Problem umgehen. Ein Beispiel: Dass Vergewaltigung anderswo klar als Kriegswaffe definiert wird, war hilfreich, um gegen Vergewaltigung durch die Armee vorzugehen. In manchen Teilen Indiens gibt es jetzt ein spezielles Gesetz zum Schutz vor Vergewaltigung durch die Armee. Die erhöhte Aufmerksamkeit hilft auch dahingehend, dass sich Indien der Welt als modernes, industrialisiertes Land präsentieren will. Daher ist das Image eines Landes mit einem hohen Grad an sexueller Gewalt schädlich. Diese Aufmerksamkeit kann also auch Druck ausüben und beeinflussen, welchen Stellenwert Indien in der Welt einnehmen kann.

STANDARD: Inwiefern kann diese Aufmerksamkeit schaden?

Butalia: Indem der Eindruck entstehen kann, Gewalt gegen Frauen findet nur hier in Indien und sonst nirgendwo statt. Jedes Land kämpft mit diesem Problem, und es ist der völlig falsche Weg, damit so umzugehen, dass man vergleicht: Wo ist es besser und wo ist es schlechter? Dabei wäre es in erster Linie wichtig, Gewalt zu erkennen, ihre Muster zu sehen und zu analysieren. Doch es scheint immer leichter, die Gewalt woanders als im eigenen Land zu sehen. Denken wir an den schlimmen Fall in Irland im Jahr 2013, als eine junge Frau sterben musste, weil ihr eine Abtreibung verwehrt wurde. Das ist schockierend, doch niemand spricht über Fälle wie diesen als schreckliche Gewalt gegen Frauen, weil sie nicht in sogenannten Dritte-Welt-Ländern passieren. Der starke Fokus auf Gewalt in bestimmten Gesellschaften wie der indischen vermittelt das völlig falsche Bild, dass das die einzige reale Gewalt wäre. International entsteht dann eine Vorstellung von Indien als schrecklichem Ort, an dem dauernd Gruppenvergewaltigungen geschehen. Aber ich lebe hier, wir Frauen leben hier, wir arbeiten hier – und dieses Indien ist sehr verschieden von dem Indien, wie es dargestellt wird. Es wäre wichtig, die Dinge in ihrer Komplexität zu sehen, in der wir hier tatsächlich leben.

STANDARD: Welche Rolle spielt die lange Geschichte der Kolonialisierung von Indien für die bestehenden Probleme von Frauen?

Butalia: Sie spielt eine ziemlich große Rolle. Die Kolonialmächte sahen sich als die starken männlichen Figuren, während sie die indischen Männer als minderwertig, als "weiblich" einstuften. Und die Frauen wurden noch geringer geschätzt, als Wesen, die sich von Traditionen unterdrücken lassen und nicht für sich selbst sprechen können. Das sind Wahrnehmungen, die teilweise noch immer vorhanden sind. Auch sind viele Gesetze seit der Kolonialherrschaft noch nicht ausreichend reformiert worden. Allerdings können wir nicht die ganze Schuld auf die koloniale Periode schieben. Es sind siebzig Jahre vergangen, seit Indien die Unabhängigkeit erlangte, und wir haben eine starke Demokratie. Wir müssen uns auch selbst die Schuld geben. Viele Probleme liegen vielleicht in der Geschichte Indiens, aber wir haben sie in unserer Verantwortung fortgeführt.

STANDARD: Wie beurteilen Sie die politischen Veränderungen seit dem großen Wahlsieg der rechtskonservativen Bharatiya Janata Party bei den Wahlen 2014?

Butalia: Sie zeugen von etwas, was wir weltweit beobachten können: ein Erstarken der Rechten und einer Politik, die auf Identitäten basiert, insbesondere auf religiösen Identitäten. Und dieser identitätspolitische Diskurs steht in Opposition zu einem, in dem Staatsbürgerschaft im Zentrum steht.

STANDARD: Was bedeutet das für Frauen?

Butalia: Wenn sich die Politik nach rechts bewegt, das Gewicht von Traditionen verstärkt wird, dann ist das für Frauen immer besonders schlecht. Außerdem gab es Einschnitte in Schlüsselbereichen, die Frauen besonders betreffen, etwa im Gesundheitsbudget. Letzten August hielt am Unabhängigkeitstag ein Mitglied einer Partei, die sich sehr für den Schutz von Frauen einsetzt, eine starke Rede zur Situation der Frauen. Aber auch in dieser Rede zeigte sich eine Vorstellung von Frauen, die nicht eine von gleichberechtigten Staatsbürgerinnen ist, sondern Frauen vor allem als Mütter, Schwestern oder Töchter betrachtet. Und das ist ziemlich besorgniserregend.

STANDARD: Wie erklären Sie sich die großen Erfolge der rechtskonservativen Bharatiya Janata Party?

Butalia: Ich denke, die Menschen waren die Korruptionsskandale und die Inaktivität der alten Regierung in wichtigen Schlüsselbereichen leid. Die alte Regierung war zehn Jahr im Amt, die ersten fünf Jahre wurde einiges weitergebracht, aber danach verlor sie völlig den Fokus. Daher wollten die Wählerinnen und Wähler nun einen starken Führer, und davon gab es am Horizont nicht viele. Der aktuelle Premierminister Narendra Modi (Bharatiya Janata Party) trat mit einem sehr klaren Plan an, was er vorhat. Viele Menschen fanden das sehr attraktiv und beruhigend. Für Frauen gab es allerdings keine Signale für einen positiven Wandel.

STANDARD: Wie stark ist die Frauenbewegung derzeit in Indien?

Butalia: Es ist die stärkste Frauenbewegung weltweit. Sie ist sehr aktiv und vielfältig. Es gibt weder eine dominante Figur noch eine dominante Philosophie. Quer durch das Land gibt es hunderte Frauengruppen, die sich für bestimmte Vorhaben zusammentun, gleichzeitig aber auch ihre spezifischen Anliegen einzeln verfolgen. Sie hat auch sehr starke Verbindungen mit politischen Bewegungen, die sich für die Rechte von Minderheiten einsetzen. Zahlreiche Gesetze für die Rechte von Frauen seit der Unabhängigkeit wurden nur aufgrund des Einsatzes der Frauenbewegung erlassen – das ist auch etwas, was in anderen Ländern überhaupt nicht gesehen wird. (Beate Hausbichler, 20.3.2016)