Rund um die Präsidentschaftswahl wird vielerorts diagnostiziert, dass Österreich ein gespaltenes Land sei, von tiefen Gräben durchzogen, zerrissen und zerfurcht. Der neue Präsident müsse daher Brücken bauen, Klüfte schließen, Gräben zuschütten – kurzum: das Land einen.

Sozialwissenschafter würden statt dieser Straßenbaumetaphern lieber den Begriff der Polarisierung verwenden. Aber selbst dann stellt sich die Frage, wie polarisiert Österreich in Wirklichkeit ist.

Bevor wir dazu kommen, sollten wir klären, was mit Polarisierung überhaupt gemeint ist. Polarisierung bezeichnet eine Verschiebung im Meinungsspektrum weg von der Mitte und hin zu den Extremen. Wenn moderate Stimmen weniger werden und jene an den Rändern mehr, dann können wir von einer Zunahme der Polarisierung sprechen.

Es gibt aber auch eine Vielzahl an Phänomenen, die wir nicht als Anzeichen für Polarisierung deuten sollten. Zum Beispiel, wenn eine Wahl – wie am vergangenen Sonntag – knapp ausgeht. Die Tatsache, dass zwei Kandidaten annähernd gleich viele Stimmen bekommen, sagt nichts über das Ausmaß an Polarisierung aus. Genauso wenig ist das Emotionslevel im Wahlkampf ein Maßstab für Polarisierung.

Partisan Sorting

Ein weiteres Phänomen, das oft mit Polarisierung in einen Hut geworfen wird, ist "Partisan Sorting": Dabei "sortieren" sich Wähler gemäß ihrer Ideologie in bestimmte Partei-Anhängerschaften. In der Folge nehmen ideologische Unterschiede innerhalb einer Parteiwählerschaft ab, jene zwischen Parteiwählerschaften hingegen zu. Bestes Beispiel dafür sind die USA, wo heute Liberale immer stärker zu den Demokraten tendieren, während Konservative sich mit großer Mehrheit den Republikanern zugewandt haben. Dieser Sortierungsprozess hat oft ähnliche Konsequenzen wie Polarisierung, stellt aber ein grundlegend anderes Phänomen dar.

Wie sieht nun das Bild in Österreich aus? Ich habe mit Daten des European Social Survey versucht, die Entwicklung des politischen Meinungsspektrums zwischen 2002 und 2014 zu skizzieren. Natürlich können hier nicht alle Politikbereiche abgedeckt werden, aber die gewählten Daten sind durchaus repräsentativ für andere Fragestellungen.

Die erste Grafik zeigt die Selbsteinstufung auf der Links-rechts-Achse in den Jahren 2002, 2008 und 2014. Die drei Verteilungen sehen auf den ersten Blick relativ ähnlich aus. Die größte Verschiebung gibt es zwischen 2002 und 2008. Hier sinkt der Anteil der Befragten, die sich auf dem Skalenmittelpunkt (5) positionieren, von 40 auf 27 Prozent, im Gegenzug steigt der Anteil der Personen, die sich etwas links oder rechts der Mitte verorten.

Grafik: Laurenz Ennser-Jedenastik

Im Jahr 2014 zeigt die Verteilung dann aber wieder sehr ähnliche Züge wie 2002. Eine merkbare Zunahme der Polarisierung über die vergangenen 15 Jahre lässt sich mit diesen Daten also nicht feststellen.

Wie aber sieht es bei einzelnen Themenfeldern aus? Die zweite Grafik zeigt die Antworten auf die Frage, ob Zuwanderer Österreich zu einem schlechteren (0) oder besseren (10) Land zum Leben machen. Der Mittelwert verschiebt sich über die Jahre etwas in Richtung schlechter (von 4,9 zu 4,8 und weiter zu 4,5). Auch gibt es einen gewissen Polarisierungseffekt zwischen 2002 und 2008. 2002 platzieren sich 13 Prozent der Befragten auf den Skalenpunkten von 0 bis 2 und 11 Prozent auf jenen von 8 bis 10. 2008 steigen diese Anteile auf 20 und 14 Prozent. Sie nehmen danach aber wieder (leicht) ab: auf 19 und 9 Prozent im Jahr 2014.

Grafik: Laurenz Ennser-Jedenastik

Insgesamt zeigt sich also auch hier eine relativ hohe Stabilität in der Verteilung, wobei eine leichte Verschiebung nach rechts (politisch gesprochen) stattfindet.

Zuletzt noch ein Blick auf das Thema Europa. Hier findet noch eine stärkere Verschiebung in eine Richtung statt. Die Österreicherinnen und Österreicher werden im Zeitraum zwischen 2004 und 2014 deutlich EU-skeptischer. Der Mittelwert verlagert sich von 4,6 auf 3,7 – die Balken links der Skalenmitte werden tendenziell höher, jene rechts davon niedriger. Aber auch hier bringt diese Verschiebung im Mittelwert keine höhere Polarisierung mit sich. Dazu müsste ja auch das proeuropäische Ende der Verteilung stärker werden.

Grafik: Laurenz Ennser-Jedenastik

Was diese Darstellungen natürlich nicht erfassen, ist ein anderer Polarisierungsprozess, der in Österreich schon seit langem stattfindet (und am Sonntag einen gewissen Höhepunkt erreicht hat). Seit 30 Jahren legen mit einigem Auf und Ab jene Parteien zu, die ideologisch weiter vom Zentrum entfernt sind, wobei diese Polarisierung asymmetrisch verläuft. Der Aufstieg der FPÖ (und anderer Parteien rechts der ÖVP) fällt deutlich dramatischer aus als jener der Grünen.

In diesem Sinn war auch der zweite Wahlgang eine Polarisierung des politischen Angebots: Von sechs Kandidaten im ersten Wahlgang kamen jene zwei in die Stichwahl, die ideologisch am weitesten voneinander entfernt sind.

Wesentlich ist aber, dass man aus diesen Entwicklungen allein nicht auf eine Spaltung oder zunehmende Polarisierung der österreichischen Gesellschaft schließen kann. Verglichen mit der militarisierten Bürgerkriegsatmosphäre von 1934 oder der hermetischen Lagerbildung unmittelbar nach 1945 leben wir in sehr gemäßigten Zeiten.

Natürlich bringen die Flüchtlingsbewegungen der vergangenen zwölf Monate ein Thema in den Vordergrund, bei dem das Ausmaß an parteipolitischer Sortierung ("Partisan Sorting") – und sicher auch das Emotionslevel – besonders hoch ist. Dennoch sollten wir ohne gute empirische Evidenz mit vorschnellen Polarisierungsdiagnosen vorsichtig sein. (Laurenz Ennser-Jedenastik, 27.5.2016)