Sprachunterricht und kulturelle Orientierungsprogramme sind zentrale Maßnahmen für die Integration, empfiehlt die Flüchtlingsforscherin Dawn Chatty. Sie selbst kennt die Probleme aus Theorie und Praxis.

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Wien – Der Zuzug syrischer Flüchtlinge nach Europa wird nicht abreißen, solange in Syrien Krieg herrscht – egal wie dicht die Routen geschlossen werden: So lautet der Befund der Sozialanthropologin Dawn Chatty. Denn vor dem Krieg war Syrien ein Land mit einer großen gebildeten Mittelschicht. Nun hätten viele Syrer Angst, dass ihre Kinder in den regionalen Flüchtlingslagern ohne Ausbildung und Arbeit zu einer verlorenen Generation werden, und schicken sie daher nach Europa, sagt Chatty. Die ehemalige Direktorin des Refugee Studies Centre der Universität Oxford hielt am Montag in Wien die Eröffnungskeynote der Jahrestagung Migrations- und Integrationsforschung der Universität Wien und der Österreichischen Akademie der Wissenschaften.

STANDARD: Sie erforschen seit Jahren die Situation syrischer Flüchtlinge – welche Empfehlungen haben Sie für Österreich in der derzeitigen Situation?

Chatty: Österreich kann vor allem von einem anderen europäischen Land in Sachen Integration lernen: Schweden. Dort sieht man, dass gelungene Integration – auch wenn sie temporär ist – der sehr frühen Schaffung von Sprachunterricht bedarf. Je früher junge Personen fließend die lokale Sprache sprechen, umso früher können sie Bildungsangebote wahrnehmen oder in den Arbeitsmarkt eintreten. Was die Anzahl der Flüchtlinge gemessen an der Bevölkerung angeht, ist Schweden in einer ähnlichen Situation wie Österreich. Schweden setzt darauf, sehr früh Orientierungsprogramme anzubieten. Das umfasst Sprachtraining und kulturelle Einführung. Die Geschlechterverhältnisse sind in Schweden etwa sehr viel liberaler als in arabischen Ländern, wo viele Flüchtlinge herkommen. Insgesamt gilt: Wenn man Bildung, Sprachunterricht und kulturelle Programme anbietet, dann schauen die Flüchtlinge schon auf sich selbst.

STANDARD: Wie kann die Toleranz gegenüber Flüchtlingen in der lokalen Bevölkerung gesteigert werden?

Chatty: Wesentlich ist, Modelle zu schaffen, damit keine Ghettos entstehen. Denn das birgt die Gefahr ernsthafter Probleme mit sozialer Diskriminierung. Außerdem bedarf es starker Unterstützung für Flüchtlinge, um ihnen den kulturellen Kontext zu vermitteln, in den sie eintreten.

STANDARD: Wie lässt sich adäquat mit den Gefahren von bestehenden kulturellen Differenzen – wie sie sich etwa in der Silvesternacht in Köln gezeigt haben – umgehen, ohne in Stereotype zu verfallen?

Chatty: Ich will das, was passiert ist, wirklich nicht kleinreden, aber ich muss sagen: Als ich mit meinen Kindern darüber gesprochen habe, war eine ihrer Antworten: Birmingham ist in der Neujahrsnacht voll von betrunkenen jungen Leuten, sexuelle Gewalt findet auch dort statt. Es sind also nicht nur Flüchtlinge, die in solche Dinge involviert sind. Wie wir aus Köln wissen, waren viele Migranten beteiligt, es gab wohl auch eine kriminelle Gang, die die Situation ausnutzte, um Frauen ihre Taschen zu stehlen. Es ist vollkommen inakzeptabel, was dort passiert ist. Aber wir müssen aufpassen, nicht in Stereotype zu verfallen. Eine ähnliche Gefahr besteht darin, syrische Flüchtlinge mit Terroristen gleichzusetzen. Tatsächlich waren die meisten Terroristen in Belgien und Frankreich "home-grown terrorists" – Menschen, die in zweiter Generation in diesen Ländern leben und dort aufgewachsen sind, sie sind nicht erst jetzt mit der aktuellen Flüchtlingswelle nach Europa gekommen.

STANDARD: Sie sind auf erzwungene Migration spezialisiert – wie verhält sich diese zu freiwilliger Flucht?

Chatty: Sogar Zwangsflüchtlinge haben eine Wahlfreiheit – man kann das bei Leuten sehen, die sich entscheiden, die Grenze zu überqueren. Oftmals zeigt sich, dass Menschen, bevor sie das Land verlassen, zunächst einmal zwei- oder dreimal innerhalb des Landes flüchten, wenn ihre Häuser zerstört oder Verwandte verschleppt wurden – das wissen wir von unseren Studien über irakische Flüchtlinge. Doch im Gegensatz zu freiwilligen Flüchtlingen lassen gezwungene Migranten meist alles zurück – ihre Häuser sind weg, ihre Jobs, sie haben nicht mehr die Unterstützung ihres Staates. In den letzten Jahren gibt es eine Angst in Europa, dass Horden von Migranten kommen und Jobs wegnehmen würden, womöglich auch Sozialleistungen beziehen. Das hat sehr stark mit rechter Politik zu tun. Denn warum würde jemand sein Zuhause verlassen, wenn die Situation nicht wirklich sehr kritisch wäre – egal ob es sich um gezwungene oder freiwillige Migranten handelt? Ist es überraschend, wenn Menschen, die in ihrem Land trotz Uniabschlusses keinen Job bekommen, auswandern? Sogar bei sogenannten freiwilligen Migranten ist die Situation oft sehr schwierig. Dennoch würde ich sagen, dass wir speziell gezwungenen Migranten gegenüber eine große Verpflichtung haben. Denn Menschen, die den Schutz in ihrem Heimatland verloren haben, haben das Recht darauf, in einem anderen Land in Sicherheit zu leben.

STANDARD: In der Wissenschaft wird versucht, möglichst objektiv zu sein. Aber wie kann man objektiv bleiben, wenn man – wie Sie – Feldforschung unter Menschen macht, die ihr Zuhause verloren haben?

Chatty: Die Objektivität der Wissenschaft ist ein Mythos. Sogar in den Naturwissenschaften hat man immer eine Position: Man hat bestimmte Prinzipien, die einen zu bestimmten Schlussfolgerungen leiten. In den Sozialwissenschaften ist Objektivität sehr schwierig zu erreichen. Wir versuchen, darüber hinauszugehen, indem wir sicherstellen, dass unsere Forschung so zuverlässig und gültig wie möglich ist, das heißt, dass sie reproduzierbar und nachvollziehbar ist. Zu Themen zu arbeiten, bei denen es um derartige Tragödien geht, ist tatsächlich sehr schwierig. Es ist sehr schwierig, nicht von der Trauer ergriffen zu werden über das, was passiert ist. (Tanja Traxler, 15.9.2016)