Feministin, Skandalregisseurin, leibhaftige Zeugin der 1980er-Jahre: Virginie Despentes.

Foto: JF Paga

Man kann es nicht oft genug sagen, aber ab einem gewissen Lebensalter setzt sich bei den Menschen vielfach die Einstellung durch, dass das alles früher oder später nicht gut ausgehen wird. Nicht nur drinnen im eigenen Gebälk beginnt es zu krachen. Wie Patti Smith einst giftete: Auch "outside in society" ist es um eine vermeintliche Zukunft nicht besonders aussichtsreich bestellt.

Die französische Autorin Virginie Despentes hat als Kind der Pillengeneration mit Ende 40 wohl auch am eigenen Leib hinreichend erfahren, dass das Leben spätestens ab den 1980er-Jahren nicht mehr besser, sondern massiv schlechter geworden ist. Eine Fahnenstange hat ja nicht nur oben ein Ende, sondern auch unten. Nur sieht man das Letztere halt leider selten.

An die Achtzigerjahre können wir uns zwar nicht mehr so gut erinnern, sie wurden dann ja auch recht zünftig von den Neunzigern beim Raven in den Boden gestampft. Zur Rache werden sie uns allerdings seit mehreren Saisonen von jungen Leuten über diverse Retrotrends in Film, Mode und Musik dauernd wieder unter die hoffentlich noch intakten Nasen gerieben.

Erst im März dieses Jahres ist der zweite Teil von Das Leben des Vernon Subutex auf Deutsch erschienen, dieser ab 2015 zum internationalen Sensationserfolg geratenen französischen Romantrilogie von Virginie Despentes. Nun findet alles in Teil drei zu einem, ja, was, Ende eben.

Flucht ins Neo-Hippie-Idyll

Nach einem privaten und beruflichen Totalbankrott und einem Leben auf der Parkbank hat sich Titelheld Vernon, der sich als Familiennamen zynischerweise ein Drogensubstitut gewählt hat, wieder halbwegs gefangen. Er wurde auf seinem Weg von unten nach ganz unten gerade noch von einem illustren Freundeskreis aus Menschen gerettet, denen es allesamt überwiegend auch nicht so gut geht.

Seit der Mittelstand am Wegbrechen ist – und bedingt dadurch die Lumpenboheme nicht mehr vom Wohlstand und Freizeitverhalten desselben profitieren kann –, sind auch der ehemalige Plattenladenbesitzer Vernon Subutex sowie dessen soziale Blase von Leuten aus der Musik- und Pornoszene (Despentes schlug sich jahrelang als Sexarbeiterin durch) sowie anderweitig Kreativen in der existenziellen Krise. Das Prekariat hat seine Altersspanne längst hinauf bis zu den Golden Oldies erweitert.

Vernon Subutex und seine Freunde flüchteten sich in Teil zwei am Ende in ein Neo-Hippie-Idyll herumziehender Nomaden, die außerhalb der feindlichen Metropole Paris sogenannte über Flyer und Mundpropaganda laufende "Convergences", also Raves veranstalten. Der allgemeinen Niedergeschlagenheit will man mit der Utopie von tagelangen Tänzen im Zeichen der Glücksversprechung und des Gemeinschaftsgedankens beikommen. Vernon ist dabei mit seinen DJ-Künsten ungewollt zu einer Art Guru geworden.

Die Idylle währt aber nur kurz. Immerhin wird die Gemeinschaft ausgerechnet mit einem millionenschweren Lottogewinn belastet. Den hat Vernons Saufkumpel Charles vor einigen Jahren heimlich gemacht, es aber vorgezogen, sein Leben als Sozialhilfeempfänger und Schluckspecht damit nicht noch im Rentenalter zu belasten. Nun ist er tot und hat die Hälfte seines Vermögens Vernons Aussteigertruppe vermacht. Das kann nicht funktionieren. Die gewagte These, dass Geld nicht glücklich macht, sorgt für Zwietracht. Bald wird auch der 13. November 2015 mit den Anschlägen in Paris kommen. David Bowie stirbt. Die Welt ist nicht gut eingerichtet. Man steuert auf die Apokalypse zu.

Figuren, die auf der Stelle treten

Virginie Despentes erweist sich einmal mehr als meisterliche Beobachterin von akuten gesellschaftlichen Zuständen, die natürlich zuallererst deren Ränder erfassen. Rassismus, Islamismus, die Radikalisierung der Entrechteten, der Zerfall Europas, der Zynismus der Menschen, die auf der Habenseite stehen:

"Die Zeit der Abschaffung der Sklaverei oder der Volksfront ist over. Niemand will mehr Schluss machen mit dem Elend. Früher brauchten sie Arbeitskräfte, da blieb ihnen nichts anderes übrig, als mit euch Arbeitern zu verhandeln. Sie hatten keine Wahl. Aber seit der Automatisierung scheißen sie auf die Proleten. Sie werden euch killen. Ich meine nicht, dass sie in Demos ballern, das haben sie schon immer gemacht. Nein, sie werden euch ganz konkret ausrotten. Ihr seid zu nichts gut."

Das ist jener literarische Stoff, der von der Kritik aufgrund seiner auf der Straße aufgelesenen Wahrhaftigkeit und Schonungslosigkeit gern als welthaltig gelobt wird. Mit zunehmendem Romanverlauf drehen solche Passagen in der Wiederholung allerdings auf der Stelle durch und ermüden. Noch dazu tritt Subutex zunehmend in den Hintergrund, Nebenfiguren rücken mit ihren Tiraden in die erste Reihe.

Möglicherweise hat Virginie Despentes während der Arbeit an diesem Großprojekt auch die Lust verloren, sich an einem Personal abzuarbeiten, das sich weder im Guten noch im Schlechten irgendwohin weiterentwickelt. Es ist, wie es ist, und das ist bekanntlich meist fürchterlich. So ist es dann auch kein Wunder, dass am Schluss ein möglicherweise wegen des drohenden Abgabetermins schnell hingefetztes Finale steht, das der Wucht und dem Furor und auch der Schnoddrigkeit des Beginns der Trilogie die Energie nimmt. Besser wird es hier auf Erden, das immerhin haben wir schon immer gewusst, nicht werden.

Vernon Subutex wird derzeit verfilmt. Diversen Bühnenadaptierungen steht ebenfalls nichts im Weg, etwa einer, die im April 2019 am Wiener Schauspielhaus Premiere feiern wird. Harter Techno, schlechter Sex, Prügeleien, Drogen. Dem Overacting sind Tür und Tor geöffnet. Schließlich steht Vernon Subutex für eines: Zeitgenossenschaft. (Christian Schachinger, 20.9.2018)