In einem Beitrag der "Deutschen Welle", in der Donald Trump wieder einmal eine "narzisstische Persönlichkeitsstörung" attestiert wurde, meinte die Psychotherapeutin Bärbel Wardetzki: "Die Angst, die dieser Störung zugrunde liegt ist, 'ich bin nicht gut genug' – und die kann existenziell sein [...] Oft handelt es sich um ausgebeutete Kinder, die einem ganz bestimmten Bild entsprechen mussten. Sie beziehen ihren Selbstwert von äußeren Dingen: Macht, großen Autos oder wichtigen Positionen. Aber darunter verbirgt sich ein emotional verwahrlostes Kind, das nie die Zuwendung erfahren hat, die es eigentlich gebraucht hätte."

Schützt Zuwendung vor Narzissmus?

Die – inzwischen zur Allerweltsweisheit verkommene – Formel: "Narzissten haben als Kinder zu wenig Empathie erfahren" geht ursprünglich auf Theorien der klassischen psychoanalytischen Autoren Otto F. Kernberg und Heinz Kohut zurück. Beide nahmen an, dass Subjekte, die in der frühen Kindheit wenig Empathie erfahren haben, ein imaginäres "Größenselbst" entwickeln – Narzissmus als Kompensation eines frühen Mangels. Der in seinem tiefsten Inneren unsichere Narzisst wirke nach Außen selbstsicher und stark. Nicht zuletzt vermöge der Kunst, seine Umgebung so zu manipulieren, dass sie ihm möglichst viel Lob und Anerkennung zukommen lasse.

Wie wird man zum Narzissten?
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Im Umkehrschluss hieße das: Wenn Eltern ihrem Kind genügend Aufmerksamkeit und Zuwendung angedeihen lassen, sei es vor Narzissmus geschützt. Es entwickete ein gesundes Selbstwertgefühl – und alles sei gut. Diese Grundannahme klassischer psychoanalytischer Narzissmus-Theorien und der fortschrittlichen Pädagogik hat aber einen Schönheitsfehler: Sie wurde in den letzten Jahren von der empirischen Psychologie gründlich widerlegt. Der Trend zur sogenannten antiautoritären Erziehung, der seit den 1960er-Jahren mit der massenhaften Stärkung kindlichen Selbstwertgefühls einhergegangen sein müsste, scheint – so die Befunde empirischer Psychologen – im Gegenteil, erst recht zur massenhaften Produktion von Narzissten geführt zu haben.

Was sagt uns unsere Beschäftigung mit dem Narzissmus über uns?

Diese und andere Merkwürdigkeiten psychologischer Narzissmus-Theorien nimmt Richard Schuberth in seinem neuen Buch "Narzissmus und Konformität" aufs Korn. Und zum Anlass, das Thema Narzissmus aus der Verankerung in der Psychologie zu befreien, um ihn für die Zwecke der Gesellschaftskritik nutzbar zu machen. Mehr als die Frage, was es nun mit dem widersprüchlich verwendeten Begriff des Narzissmus tatsächlich auf sich haben mag, interessiert Schuberth die Frage, was uns die inflationäre Beschäftigung mit dem Thema Narzissmus über unsere Gesellschaft sagen mag. Also über die narzisstische Dimension der Gesellschaft. Aber auch: Über die gesellschaftliche Dimension des Narzissmus.

So heißt es über das geschilderte Scheitern der These, ein starkes Selbstwertgefühl schützte vor Narzissmus: "Mit dämonischer Schadenfreude rächt sich die Realität, die immer eine gesellschaftliche ist, an den Psychowissenschaften dafür, dass diese sie auf die Einzelebene des Individuums herunterbrachen."

Auch die Reichen sollen weinen

Bei der Freude über das Scheitern einer einseitigen psychologischen These lässt es der Autor aber nicht bewenden. Er will es genau wissen. Kann es sein, fragt er sich und uns, dass hinter der Theorie, der Narzissmus sei „Ausdruck einer unsicheren, ungeliebten Seele“ der geheime Wunsch steht, unser Schicksal möge, trotz aller real existierenden Ungerechtigkeit – oder gerade ihretwegen –, von einer ausgleichenden höheren Gerechtigkeit geleitet sein? Der Wunsch, dass auch die Reichen weinen sollten, wie der Titel der mexikanischen Telenovela "Los ricos también lloran" suggeriert?

Der Frage wer, aus welcher Position – und Motivation – heraus von Narzissmus spricht, geht Schuberth auch in anderen Teilen seines zugleich aufschlussreichen und witzigen Buches nach. Und dem Verdacht, ob jene, die über den Narzissmus der anderen schimpfen, nicht im Grunde von sich selbst sprechen. Wobei es hier nicht bloß darum geht, den Narzissmus-Vorwurf als Projektion zu entlarven – sondern um den gesellschaftlichen und historischen Kontext dieser Verkennung:

Autor Richard Schuberth.
Foto: Jelena Popržan

"Die urbane Gesellschaft um 1750", schreibt Schuberth, "war im wahrsten Sinne gesellschaftlich, und gerade ihre verspielten Codes der Distanz und Täuschung zwangen zur Objektivität der Wahrnehmung des Gesamtgefüges."

In dieser aristokratisch geprägten "Kultur der öffentlichen Darstellung" (Robert Pfaller), die zwischen der privaten Person und ihrer öffentlichen Rolle klar unterschied, war die Öffentlichkeit eine Art Bühne, auf der man in fremde Rollen schlüpfte, um anderen etwas vorzuspielen.

Im bürgerlichen 19. Jahrhundert kam es dann zu einem Paradigmenwechsel. Das bürgerliche Bewusstsein setzte das private, "authentische" Ich absolut, und leugnete dessen gesellschaftliche Bedingtheit. Angesagt waren nunmehr Aufrichtigkeit, Ernsthaftigkeit und Innerlichkeit. Die theatralische Dimension des öffentlichen Lebens geriet in Misskredit. Rollenflexibilität galt fortan als verlogen. Jean Jacques Rousseau, Vorläufer einer gegen die Aufklärung gerichteten Romantik, war der Prophet dieser neuen Authentizität. Sein Ideal: Die "protestantische Kleinstadt, ein Ort totaler Transparenz, gesäubert von jeglicher Mehrdeutigkeit".

Imperative der Authentizität

"Sei du selbst!", "Sei authentisch!", "Verwirkliche dich selbst!" – diese zutiefst narzisstischen, die aktuellen Diskurse beherrschenden Imperative der Authentizität stehen also in der Nachfolge Rousseaus. Und untergraben die Lust und die Fähigkeit, im öffentlichen Raum etwas darzustellen, das sich vom privaten Ich unterscheidet. Mit dem Schwinden der Kultur der öffentlichen Darstellung gerät aber die Sphäre des Öffentlichen – und des Politischen – zunehmend unter die Herrschaft des Privaten.

Deutlich zeigt sich diese "Tyrannei der Intimität" im Falle Trumps. Dessen Narzissmus wir, Schuberths Analysen zufolge, nicht in trivialen Formeln à la "der Mann hat in der Kindheit zu wenig Zuwendung erfahren" festmachen sollten. Sondern daran, dass er zwischen seiner privaten Person und seiner öffentliche Rolle, zwischen dem, was er zuhause beim Frühstück und dem, was er als Präsident der USA per Twitter mitteilt, nicht zu unterscheiden vermag. 

Sprachliche Brillanz als sozial schädliches Verhalten

Paradoxer- und groteskerweise wittern die Vertreter der narzisstischen Ideologie der Authentizität den Narzissmus nicht bei sich, sondern in den letzten Resten der Kultur der öffentlichen Darstellung. Gerade in jenen Tendenzen also, die dem dominierenden kollektiven Narzissmus entgegenarbeiten. Mehr noch: In der von narzisstischen Tendenzen geprägten Gegenwartskultur steht alles künstlerisch Verspielte oder intellektuell Anspruchsvolle, jede (in den Worten Hegels) "Anstrengung des Begriffs" unter Narzissmus-Verdacht: So wie es dem typischen Narzissten der Gegenwart Unbehagen bereitet, in der Öffentlichkeit etwas anderes darzustellen als sein privates Ich, will er auch in der Begegnung mit anspruchsvollen Texten oder künstlerischen Produktionen, "dort abgeholt werden, wo er ist". Den Gedanken, seinerseits auf einen Text oder ein Kunstwerk zuzugehen, sprich: die intellektuellen und emotionalen Grenzen seines Ichs zu überschreiten, empfindet er als Zumutung.

"Eine Frage der Zeit nur", schreibt Schuberth, "bis die seelische Kränkung, die durch das Unverständnis eines Textes erfahren wird und eben nichts als eine narzisstische ist, klagbar wird und sprachliche Brillanz als sozial schädliches Verhalten gerichtliche Verfolgung oder Zwangstherapie nach sich zieht."

Fazit: Mit seinem geistreichen, verspielten und ungemein aufschlussreichen Buch wird Schuberth dem Vorwurf des Narzissmus mit Sicherheit nicht entgehen. (Sama Maani, 23.1.2019)

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