Selbst Kapazunder wie die Kuratorenikone Harald Szeemann habe man angeblich ins Flugzeug nach Peking bugsieren müssen. 1997 herrschte in weiten Teilen der westlichen Kunstwelt noch Ignoranz gegenüber der kreativen Explosion in China. Uli Sigg wollte das ändern. Er wollte mehr Beachtung für das, was sich nach dem Massaker vom Tian'anmen-Platz am 4. Juni 1989 und der ersten Schockstarre danach in der Kunst entlud. Also lobte der Schweizer einen Preis aus den Chinese Contempory Art Award (CCAA), und lockte so internationale Kuratoren – darunter Szeemann – als Jurymitglieder nach Peking.
Sigg, Jahrgang 1946, war schon damals ein großer Kenner der Kunstszene jenes Landes, das er heute sein "ultimatives Studienprojekt" nennt. Ende der 1970er-Jahre, als ein Managerposten den Juristen und ehemaligen Wirtschaftsjournalisten erstmals nach Peking brachte, hatte er die Idee, sich das große unbekannte Reich der Mitte über die Kunst zu erschließen.
Zu diesem Zeitpunkt eine naive Idee, wie Sigg rasch einsehen musste. Kunstmarkt gab es keinen, daher auch keine Galerien. In den Museen hing Traditions- und Propagandaware. Die Kunstschaffenden agierten noch in völliger Isolation. In den Augen des offiziellen Chinas ist Kunst Schönheit und Harmonie.
Erst als Sigg Mitte der 1990er als Botschafter nach China zurückkehrte, sollte er intensiver eintauchen. Er stöberte das, was zu Beginn des neuen Jahrtausends zum Boom wurde, in den Ateliers und Akademien in Peking, Shanghai, Chongquing oder Chengdu auf – und kaufte, meist um 1000-Dollar-Beträge. Heute ist seine 2500 Werke umfassende Sammlung die größte weltweit.
Der Sammler fand es seltsam, dass sich im größten Kulturraum der Welt mit 1,4 Milliarden Einwohnern niemand – kein einziges Museum – für das zeitgenössische Kunstschaffen verantwortlich fühlte. Er habe die klaffende Lücke füllen und die "Breite und Tiefe der chinesischen Kunst seit der Kulturrevolution" abbilden wollen, erzählt der heute 72-Jährige in Interviews immer wieder. Den persönlichen Geschmack stellte er deshalb hintan. Und tatsächlich ist in seiner Kollektion nicht nur Regimekritisches, sondern auch das zu finden, was die Zensur als traditionell oder harmlos einstufen würde.
Harald Szeemann, so will es die Legende, wurde tatsächlich zur Schlüsselfigur. Die Ignoranz war Begeisterung gewichen. 1999 stellte der Kurator der Weltöffentlichkeit bei der Biennale von Venedig 20 chinesische Künstler vor. Darunter Cai Guo-Qiang, der mit seiner zerbröselnden Replik einer sozialistischen Vorzeigeplastik gar den Goldenen Löwen gewann.
Der Kunstmarkt reagierte. Nicht zuletzt weil China als aufstrebende Wirtschaftsmacht mehr in den Fokus geriet. Bald fehlten die grinsenden Glatzköpfe von Fang Lijun, die grellpinken Fratzen von Yue Minjun aus dem Land des Lächelns, aber auch die melancholischen, die Ein-Kind-Politik spiegelnden Familienporträts Zhang Xiaogangs in keiner China-Ausstellung mehr.
Andere Sammler im großen Stil: Guy und Myriam Ullens
Mahjong hieß 2005 in Bern die Sigg-Sammlungsschau zum neuen chinesischen Kunstkanon. Ein Blockbuster, der 2006 in Hamburg Station machte und 2007 im Salzburger Museum der Moderne. Auch in Österreich sprang man auf den Trend auf. Inzwischen waren die Preise international explodiert, manche Werke erzielten Millionenbeträge. China now war 2006 der Titel einer Schau, die der freie Kurator Feng Boyi für die Sammlung Essl kuratierte.
Facing Reality hieß es im Jahr darauf im Mumok: Die präsentierte Sammlung war allerdings nicht von Sigg, sondern vom belgischen Sammlerpaar Guy und Myriam Ullens, die seit den 1980ern rund 1700 Werke zusammengetragen hatten und in Pekings Kulturbezirk gerade ihr 5000 Quadratmeter großes Ullens Center for Contemporary Art, das UCCA, einweihten. Auch im Kunsthaus Graz setzte man 2007 mit "China Welcomes You … Sehnsüchte, Kämpfe, neue Identitäten" auf die Kunst aus Fernost.
Ins Land der Morgenröte waren also mehr Neugierige aufgebrochen – auch schon vor dem magischen Jahr 1999 als Szemanns Biennale stattfand. Dieter Ronte und Walter Smerling etwa, die für China! 1996 im Kunstmuseum Bonn rund 200 Ateliers in der Volksrepublik besuchten. Die Schau gastierte in Kopenhagen, Berlin, Warschau, Singapur – und 1997 auch im Wiener Künstlerhaus. Mit im Gepäck die erwähnten, späteren Senkrechtstarter Yue Minjun, Fang Lijun und Zhang Xiagang.
Die Leistung Siggs als Sammler und Opinion Leader schmälert das nicht. Es korrigiert lediglich die Tendenz einseitiger Heldenbildung. 2012 besiegelte Sigg seinen Plan, die Kunst an ihren Entstehungsort zurückzubringen, damit ein öffentliches Haus dort die Funktion des Langzeitgedächtnis übernimmt: 1200 Werke schenkte er dem M+ Museum for visual culture in Hongkong, dessen von den Architekten Herzog & de Meuron geplantes Haus, nach Verzögerungen kommendes Jahr eröffnet wird. Die Autonomie Hongkongs von China soll helfen, dass politische und kritische Werke nicht im Depot versauern. Darauf was ausgestellt wird, hat Uli Sigg nun keinen Einfluss mehr.
2016 zeigte Chinese Whispers im Kunstmuseum Bern überwiegend Arbeiten dieses zurückkehrenden Kulturschatzes. Inzwischen ist aber vieles verschifft, und so sind nun im Wiener Museum für angewandte Kunst nur zehn Arbeiten dieses Konvoluts zu sehen. Im bunten China-Kaleidoskop gilt es, sie obendrein detektivisch aufzuspüren. Und so lässt sich nicht wirklich ablesen, wie mutig die Auswahl für das Hongkonger Museum tatsächlich ist.
Die drei Arbeiten von Ai Weiwei, dessen Karriere Sigg anzuschieben half, behält der Sammler einstweilen. Der bekannteste Exilchinese kann der Schenkung Siggs laut Monopol übrigens nichts abgewinnen. M+ wird von einer staatsnahen Hongkonger Behörde geführt. Genauso gut könne er seine Sammlung in einem Schweizer See versenken. (Anne Katrin Feßler, 3.2.2019)