Cartoon: Michael Murschetz

Julia Herr: "Wer die Sicherungshaft gutheißt, beginnt Grund- und Freiheitsrechte infrage zu stellen."

Foto: APA/BARBARA GINDL

Die Debatte um die Sicherungshaft steht beispielhaft dafür, was derzeit falsch läuft in Europa. In der politischen Themensetzung. Im Umgang mit der rechtsstaatlichen Demokratie. Bei der autoritären Wende einst christdemokratischer Parteien und beim Erstarken rechtsextremer Kräfte. In unserer Diskussionskultur. Und ja, auch in der Sozialdemokratie.

Es fängt in der Sprache an: Was Innenminister Herbert Kickl plant, hat nichts mit Sicherheit zu tun. Sondern mit Willkür. Er will keine Sicherungshaft. Er will eine Willkürhaft. Er will Menschen monate- und auch jahrelang einsperren können, auch wenn er keinen konkreten Tatverdacht hat. Das Recht auf persönliche Freiheit ist der Ursprung des bürgerlichen Rechtsstaats. Wer die Willkürhaft gutheißt, beginnt, die Grund- und Freiheitsrechte grundsätzlich infrage zu stellen.

Unwürdiges Schauspiel

Dass die ÖVP dazu bereit ist, nur um von ihrem Kniefall vor der Industrie in der Karfreitagsfrage abzulenken, zeugt von einem politisch-moralischen Verfall sondergleichen. Freiheitsrechte werden auf dem Altar schamloser Lobbypolitik geopfert. Wo hier das Gefahrenpotenzial liegt, hat Innenminister Kickl am Montag offen ausgesprochen: "Wenn die Türe offen ist, wäre es unverantwortlich sie nicht zu nutzen." Genau darum geht es. Wenn die Türe offen ist, dann werden Kickl und Konsorten sie auch nutzen. Wir brauchen uns nicht zu wundern, was alles möglich ist.

Dieses unwürdige Schauspiel ist aber nur die österreichische Variante eines europäischen Dramas. Europa erlebt vor dem Hintergrund wachsender sozialer Spannungen ein Erstarken rechtsextremer Kräfte und eine autoritäre, antidemokratische Wende vieler Parteien. Mit Nationalismus, Rassismus und Antisemitismus wollen sie von der sozialen Spaltung ablenken, die der Neoliberalismus seit Jahrzehnten verursacht. Die ungerechte Verteilung zwischen Arm und Reich hat sich in Europa drastisch verschärft.

Deshalb braucht es eine grundlegende Umgestaltung der politischen und wirtschaftlichen Machtverhältnisse in Europa. Wenn Arbeitszeitgesetze und Feiertagsregelungen auf Zuruf von Großspendern umgeschrieben werden; wenn Regierungen der Klimakatastrophe entgegenschlummern, um sich nicht mit mächtigen Industrieverbänden anzulegen; wenn Banken, die mit unfassbaren Steuermilliarden gerettet werden mussten, die Politik bestimmen statt umgekehrt: Dann erzeugt das berechtigten Ärger und ein Gefühl der Ohnmacht, das sich die Rechten zunutze machen können.

Auswüchse des Kapitalismus

Die Sozialdemokratie wird dagegen nur Erfolg haben, wenn sie den Auswüchsen des heutigen Kapitalismus entschlossen den Kampf ansagt: Rasant wachsende Ungleichheit, fehlende soziale Aufstiegsmöglichkeiten, Klimazerstörung – für diese Herausforderungen braucht es Antworten. Im Kleinen, wie im Großen, von der Eingliederung ausgelagerter Reinigungsarbeiten im öffentlichen Dienst bis zu einem sozial-ökologischen Umbau unserer Wirtschaft. Es hilft nichts, im Kielwasser der rechten Angstmacher mitfahren zu wollen.

Über Kickls Willkürhaft gibt es nichts zu verhandeln. Nichts. Das heißt nicht, dass es keine Möglichkeiten gäbe, im sozialdemokratischen Wertesetting über Sicherheitspolitik zu sprechen: Dass zum Beispiel die Polizeiwachzimmer, die schwarze Innenminister seit 20 Jahren quer durchs Land zusperren, ebenso zur ländlichen Infrastruktur gehören wie Postämter, Kindergärten und Bankomaten; dass nicht höhere Strafdrohungen, sondern personell entsprechend ausgestattete Präventionsarbeit Kriminalität bekämpft. Dass mehr Sensibilisierung und Schulung bei den Staatsanwaltschaften und der Polizei helfen könnten, oft tödliche familiäre Gewalt gegen Frauen zu stoppen.

Worauf es ankommt, ist, dass jede unserer Handlungen und Forderungen Teil einer gemeinsamen Vision ist: eine Gesellschaft, die uns allen ein freies, selbstbestimmtes Leben in Sicherheit und Wohlstand garantiert. Dafür müssen wir tagtäglich kämpfen – in Österreich ebenso wie in Europa! (Julia Herr, 1.3.2019)