Der politische Antisemitismus in Deutschland und Österreich war ursprünglich eine Waffe der Konservativen im Kampf gegen den Liberalismus. Schon 1848 empörte sich die Konterrevolution über die "Wühlerei" jüdischer Journalisten und Revolutionäre.Nicht zufällig standen kirchliche Repräsentanten, besorgt um die Verbindung zwischen Thron und Altar - in Deutschland voran der Hofprediger Pastor Adolf Stoecker, in Österreich etliche katholische Pfarrer und Kapläne -, an vorderster Front der Feinde der Juden. Zu den alten Vorurteilen des religiösen trat der wirtschaftliche Antisemitismus, der die Schuld an den Auswüchsen des Frühkapitalismus und an seinen Krisen dem jüdischen Bankkapital zuschob und Anklang bei all denen fand, die sich in Berufen wie Bankiers, Rechtsanwälten oder Ärzten einer infolge der liberalen Emanzipationsgesetze rasch aufsteigenden jüdischen Konkurrenz gegenüber sahen. Hinzu traten die kleinbürgerlichen Handels- und Gewerbetreibenden und die Bauern, die die Hofverschuldung (eine Kehrseite der Bauernbefreiung durch die Grundablöse) den jüdischen Geldverleihern zuschoben. In Deutschland trat sogar eine eigene Antisemitenpartei auf und bekam in den späten Neunzigerjahren Mandate im Reichstag, in Österreich übernahm sehr bald Karl Luegers Christlichsoziale Partei die antisemitische Agitation. Erst als Lueger nach langer Weigerung des Kaisers endlich Wiener Bürgermeister war, bekannte er in vertraulichem Gespräch: "Ja, wissen S', der Antisemitismus is a sehr gutes Agitationsmittel, um in der Politik hinaufzukommen; wenn man aber amal oben ist, kann man ihn nimmer brauchen; denn dös is a Pöbelsport." Für die Deutschnationalen war der antikapitalistische Touch des Antisemitismus, mit dem ein Lueger die "Modernisierungsverlierer" von damals gewann, ebenso wenig attraktiv wie die alten religiösen Vorurteile gegen die Juden. Ihre Deutschtümelei, ihre Verehrung für das "echte" Volkstum und ihre Inanspruchnahme der Germanen als Stammväter der Deutschen ließen sie eine neue, und wie sich herausstellen sollte, bösartigste Form der Judenfeindschaft aufgreifen: den Rassenantisemitismus. Pseudowissenschaftliche Theorien wie die des französischen Grafen Joseph Arthur Gobineau von der unterschiedlichen Wertigkeit der Rassen und jene des Eng- länders Houston Stewart Chamberlain, der in der rassischen Vermischung der germanischen Eliten den Untergang der abendländischen Kultur heraufziehen sah, wurden popularisiert und flossen in die Programme deutschnationaler Gruppierungen ein. Der (sprachwissenschaftliche) Begriff "Arier" wurde rassistisch umgedeutet und den Semiten, womit in erster Linie die Juden gemeint waren, entgegengesetzt. "Die Religion ist einerlei, die Rasse ist die Schweinerei", lautete der Kampfruf extremistischer Deutschnationaler. Im k. u. k. Rechtsstaat konnte das zunächst nur die Auswirkung haben, dass Vereine wie die studentischen Burschenschaften, der Deutsche Turnerbund und schließlich auch der Alpenverein Juden als Mitglieder ausschlossen. Wie der Antisemitismus in subtiler Weise auch akademische Kreise zu durchdringen begann, zeigte etwa der Dramatiker Arthur Schnitzler in seinem Stück "Professor Bernhardi". In der "Dolchstoßlegende", die die Niederlage im Ersten Weltkrieg jüdischen Verrätern zuschob, der Angst vor dem "jüdischen Bolschewismus", dem Hass gegen die "verjudete" Sozialdemokratie und den Vorwürfen der Zersetzung von Kultur und Sexualmoral fanden sich Christlichsoziale und Großdeutsche in der Ersten Republik häufig, auch wenn die Anschlussfreundlichkeit der Erstgenannten sich in Grenzen hielt. Lesen Sie morgen: Der verhin- derte Anschluss 1918 (Manfred Scheuch/DER STANDARD, Printausgabe, 9.7.2002)