Gestern: Röntgenkontrolle im Lorenz-Böhler-Unfallkrankenhaus im 20. Bezirk: Beginn, Aufenthalt oder Ende einiger unglaubwürdiger Reisen. Eine fast noch unglaubwürdigere Reisende als ich sah ich gestern: Sie lag eine Weile im violettroten Sonntagskleid, hellen Socken und schwarzem Unterrock auf der Bahre neben mir und versuchte, von dort her ihre Lage zu überschauen. Der Himmel ließ sie wie die niedrige Decke der Röntgenstation exakt da, wo sie war: nicht außer sich, nicht bei sich und nicht für sich: Ihr Blick nahm von dem, das sie umgab, nichts zur Kenntnis und änderte sich so wenig wie der Deckenanstrich und das mit dem wachsenden Vormittag beschleunigte Tempo der Pfleger. Was sie aber heraushob und auffiel, war ihre fast vollkommene Ungezieltheit, nicht Ziellosigkeit, sondern eine wie von Geburt mitgegebene Existenz ohne Ausrichtung. Fast wie die Aufräumfrauen, die in sich versunken sind und fast verwachsen mit den polierten Rändern von Glasschränken, in die sie immer tiefer einzusacken scheinen. Ob ihre Reiseausrüstung, der Körper und alles andere, vorgegeben war oder nicht: Sie war jedenfalls unzureichend, half keiner Reise und dieser in den zwanzigsten Wiener Gemeindebezirk noch weniger als allen übrigen. Immer wieder war ich in Gedanken versucht, ihre unglückliche Figur und ihre Lage auf der Krankenhausbahre in eins zu setzen. Das besorgten statt mir kurz darauf die raschen Träger. Doch noch ein Beobachter tauchte auf, der arme Spielmann von Franz Grillparzer, den ich gleich darauf wieder las: Wie er die Brücke in die Brigittenau überquert, in die "mit dem Augarten, der Leopoldstadt, dem Prater in ununterbrochener Lustreihe zusammenhängende Brigittenau, die ihre Kirchweih feiert. Eine wogende Menge erfüllt die Straßen. Geräusch von Fußtritten, Gemurmel von Sprechenden, das hie und da ein lauter Ausruf durchzuckt." Diese Stimmung der Gemeinsamkeit wird konterkariert vom einsamen Spielmann und von seinem jetzigen hageren Gegenstück, der violetten Dame auf der Bahre. In diesem "Aufruhr der Freude", in der, so Grillparzer, "zwei Ströme, die alte Donau und die geschwollnere Woge des Volks, sich kreuzend quer unter- und übereinander" bewegen, steht der arme Spielmann, dünn, in verschlissener Kleidung, Hand und Fuß von auffallender Zartheit, wie die Frau neben mir. Grillparzer schreibt, wie aus dem Plutarch lese er "aus den heitern und heimlich bekümmerten Gesichtern, dem lebhaften oder gedrückten Gange die Biographien der unberühmten Menschen zusammen" - was würde er zu dieser Frau in ihrem violetten Kleid am Spitalsgang sagen? Zum Geigenspiel des Spielmannes bemerkt Grillparzer, dass die Töne seiner Violine "jetzt bis zur Ununterscheidbarkeit gedämpft" seien. Bei dieser Ununterscheidbarkeit wird es Zeit, die gemeinsame Reise aufzugeben. Noch mehr für den, der schon seit elf Tagen zu den Brigittenauern gehört: ein Status, der ihm bisher unerreichbar schien. (DER STANDARD, Print-Ausgabe vom 13.9.2002)