Wirtschaftspolitik
Experten zwischen Kritik und Zustimmung
"Enttäuschtes Vertrauen" oder "Wachstumsförderung"
Brüssel - "Das mag eine Anpassung
an die Realität sein, aber es ist dennoch ein falsches Signal. Dadurch
wird das Vertrauen der Märkte enttäuscht." Stefan Brill, Wirtschaftsexperte im European Policy Center in
Brüssel, übt im Gespräch mit dem STANDARD heftige Kritik an den Plänen der EU-Kommission.Es stimme zwar die Argumentation, dass in den Stabilitätspakt direkt
nicht eingegriffen werde, zu, aber
"das ist nicht der Punkt". Durch solche Entscheidungen würden die Investoren verunsichert, weil "Wirtschaft gerade in schlechten Zeiten
auf Vertrauen" basiere. Wer hingegen andauernd "deadlines" verschiebt, könne nicht Vertrauen
schaffen. Durch die Fristverschiebung werde außerdem die Reformbereitschaft in den betroffenen Staaten
nicht gerade gestärkt.
"Glaubwürdigkeitsverlust"
Hans-Werner Sinn, Präsident des
Münchener Ifo-Instituts, argumentiert ähnlich. Er warnt im Handelsblatt vor einem Glaubwürdigkeitsverlust, sollte der Pakt aufgeweicht
werden. Allerdings hätte er besser
konstruiert werden können. Wenn
die aktuelle Konjunkturflaute vorbei
sei, solle ein neuer Pakt vereinbart
werden, empfiehlt Sinn.
Eine straffreie Überschreitung der
Maastricht-Grenze aus konjunkturellen Gründen verlangt Klaus Zimmermann, Präsident des Deutschen
Instituts für Wirtschaftsforschung in
Berlin. Michael Saunders, Volkswirt
bei der Investmentbank Schroder
Salomon Smith Barney, hatte jüngst
gewarnt: "Ein striktes Festhalten an den Defizitzielen würde eine sehr
restriktive Fiskalpolitik erfordern -
das würde die wackelige Konjunkturerholung gefährden."
"Eher wachstumsfördernd"
Positiv kommentiert auch der
Konjunkturexperte des Instituts für
Wirtschaftsforschung Halle (IWH),
Udo Ludwig, die Verschiebung des
Zieldatums. Die Maßnahme werde
"eher wachstumsfördernd oder
wachstumsneutral" wirken. Auf keinen Fall sei dieser Schritt wachstumsschädigend. Die dämpfenden
Wirkungen eines sonst unvermeidlichen radikalen Sparkurses seien jetzt
durch das Vorhaben der EU-Kommission nicht mehr zu erwarten. Um
bis 2004 einen nahezu ausgeglichenen öffentlichen Haushalt zu erreichen, hätte Deutschland nach Angaben Ludwigs 2003 und 2004 zwischen 50 und 60 Mrd. Euro einsparen
müssen. "Das wäre ein unzumutbarer Schritt gewesen", so Ludwig.
Der Präsident des Instituts für
Wirtschaftsforschung in Halle, Rüdiger Pohl, hat den Pakt gar für tot erklärt. Die Beurteilung der Finanzpolitik sollte den Finanzmärkten überlassen werden. Länder mit höheren
Schulden würden ohnehin mit höheren Zinsen bestraft. (ina, DER STANDARD, Printausgabe 26.9.2002)