Kurz nach ihrem Beginn und kurz vor ihrem Ende: Schon zum zweiten Mal muss sich die schwarz-blaue Regierungskoalition nun mit den Ansichten eines deutschen Völkerrechtsgelehrten auseinander setzen. Jochen Abraham Frowein, der nun in seinem Gutachten für das Europäische Parlament in den Benes-Dekreten kein Hindernis für die Aufnahme Tschechiens in die EU sieht, ist Österreichern schon aus einer anderen Rolle gut bekannt: Er war einer der "drei Weisen", die im Jahr 2000 überprüften, wie es denn mit der EU-Kompatibilität ihrer neuen Bundesregierung bestellt sei. Der Berliner Frowein selbst kennt Österreich gut: Nicht nur durch wissenschaftlichen Austausch, sondern auch durch seinen Vater, der lange Generalkonsul in Graz war. Dort, wo Völkerrecht politisch brisant wird, ist der Heidelberger Professor schon seit Jahrzehnten ein gefragter Mann. Der Direktor des renommierten Max-Planck-Instituts für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht gilt als einer der führenden Fachleute für Menschenrechte im deutschsprachigen Raum. Als Koautor des Standardwerks zur Europäischen Menschenrechtskonvention hat er immer noch Einfluss auf die Auslegung dieser Charta. Noch mehr Einfluss hatte er nur zwischen 1973 und 1993, als er selbst in Straßburg Mitglied und dann Vizepräsident der Europäischen Menschenrechtskommission war: Deren "Gutachten" über Menschenrechtsverletzungen in europäischen Staaten waren bis Ende der 90er-Jahre Grundlage für die Urteile des Menschenrechtsgerichtshofs. In Straßburg ist der 68-jährige Jurist mit dem klaren Redestil und dem rollenden R immer noch oft zu Gast. Erst am Wochenende nahm er - in Begleitung seiner Frau - an einem Juristenkongress über die Zukunft der EU teil. An dieser baut er nun - zumindest was Tschechien betrifft - mit seiner Benes-Expertise auch in der Praxis mit. Zu rechtspolitischen Fragen äußerte er sich aber in den letzten Jahren auch außerhalb von Gutachten oft recht deutlich. So kritisierte er zuletzt die Käfige für die Al-Qa'ida-Häftlinge in Guantánamo-Bay als völkerrechtswidrig. Auf der anderen Seite nannte Frowein die Auslieferung des jugoslawischen Expräsidenten Slobodan Milosevic einen großen Fortschritt für das Völkerrecht und befürwortete ebenfalls die Festsetzung des chilenischen Exdikators Augusto Pinochet in Großbritannien. Gegen Bombardierungen durch die Nato bezog Frowein im Kosovo-Konflikt von 1999 Stellung - insbesondere gegen die Zerstörung von zivilen Zielen wie der Wasser- und Stromversorgung. Im Jahr 1998 hatte er im Übrigen auch eine Bombardierung Bagdads durch amerikanische und britische Flugzeuge infrage gestellt. Möglicherweise kann er sich bald wieder dazu äußern. (Jörg Wojahn/DER STANDARD, Printausgabe, 1.10.2002)