Geschlechterpolitik
Die Braut stammt aus dem Familienkreis
In der Türkei wollen WissenschaftlerInnen die Inzest-Ehe aus gesundheitlichen Gründen eindämmen
Istanbul - "Trinke nicht aus einem Brunnen, dessen Grund du
nicht sehen kannst", empfiehlt ein türkisches Sprichwort.
"Selbstgemachtes Joghurt ist bekömmlicher als fremde Sauermilch", rät
ein anderes. Zwar kommt heutzutage auch in der Türkei das Wasser
meist aus der Leitung und das Joghurt aus dem Supermarkt, doch wenn
es ans Heiraten geht, dann halten es viele Türken weiter mit den
alten Volksweisheiten und wählen ihre Braut aus dem Familienkreis.
Bis heute wird fast jede vierte Ehe zwischen Blutsverwandten
geschlossen, vorzugsweise zwischen Cousinen und Cousins ersten
Grades. Die Tendenz ist sogar steigend, wie eine neue Studie jetzt
zeigte. In einigen Landesteilen bleibt inzwischen fast jede zweite
Braut in der Familie.Steigende Zahl der Ehen unter Blutsverwandten
"Gute Mädchen bleiben in der Familie, die schlechten Mädchen gibt
man Fremden" - dieses Sprichwort gilt vor allem im überwiegend
kurdisch besiedelten Südosten heute mehr denn je. Wurden dort 1988
noch 36 Prozent aller Ehen zwischen Blutsverwandten geschlossen, so
stieg dieser Anteil nach einer Erhebung der Tigris-Universität in
Diyarbakir schon bis 1996 auf 40 Prozent. Im laufenden Jahr erfolgten
dort bereits 43 Prozent aller Eheschließungen in der Familie. Selbst
in der relativ hoch entwickelten Westtürkei waren 16 Prozent aller
Brautpaare dieses Jahres blutsverwandt.
Der Landesschnitt von Verwandten-Ehen stieg damit über die noch im
vergangenen Jahr vom Gesundheitsministerium ermittelten 22 Prozent,
die bereits einen Zuwachs zu den 1988 festgestellten 20 Prozent
darstellten. Rund 70 Prozent dieser Ehen werden allen Erhebungen
zufolge zwischen Cousinen und Cousins ersten Grades geschlossen, die
übrigen vorwiegend zwischen solchen zweiten Grades.
Inzucht Grund für Kindersterblichkeit
Das Gesundheitsministerium will mit Aufklärungskampagnen gegen den
Brauch vorgehen, denn die Verwandtschafts-Ehen bergen erhebliche
Risiken für die daraus geborenen Kinder. Einer Studie der
Hacettepe-Universität in Ankara zufolge ist die verbreitete Inzucht
ein wichtiger Grund für die extrem hohe Kindersterblichkeit der
Türkei, die noch immer bei 47 von 1.000 lebend geborenen Kindern
liegt, während etwa im benachbarten Griechenland nur sechs von 1.000
Kindern sterben. Für die überlebenden Kinder ist zudem das Risiko
einer Behinderung sehr hoch: Verschiedenen Studien zufolge sind
sieben bis acht Prozent der Kinder von blutsverwandten Eltern in der
Türkei körperlich oder geistig behindert. Inzucht ist in der Türkei
die führende Ursache für Blindheit und viele andere Gebrechen.
Glückliche Ehen durch Blutsverwandschaft?
Vielen PartnerInnen in Verwandtschafts-Ehen ist dieses Risiko durchaus
bewusst. Dennoch hat die Ehe mit einem Blutsverwandten für sie
handfeste Vorteile, die etwaige gesundheitliche Risiken aus ihrer
Sicht aufwiegen - darunter vor allem die praktische Unauflöslichkeit
einer solchen Ehe. 80 Prozent der für eine Studie des
Ministerpräsidentenamtes befragten Frauen und 83 Prozent der Männer
erklärten ihre Ehe für glücklich. Als wichtigste Argumente für die
Verwandtschafts-Ehe führten sie an, dass man dadurch den/die PartnerIn von
vorneherein gut kenne - und dass die Blutsbindung die Ehe zusätzlich
festige, weil die gemeinsame Familie bei Streitigkeiten eingreifen
könne. Geschieden werden solche Ehen daher praktisch nie.
Angesichts der gesellschaftlichen Verankerung dieses Brauches
haben die MedizinerInnen mit ihren Bedenken keine Hilfe aus der Politik zu
erwarten. Bei Parlamentsdebatten zum Behindertentag wird die Inzucht
zwar stets ebenso gegeißelt wie die hohe Zahl von Verkehrsunfällen.
Doch als eine Parlamentsabgeordnete, die von Beruf Ärztin ist, im
vergangenen Jahr einen Gesetzentwurf zum Verbot der Eheschließung
zwischen Cousins und Cousinen ersten Grades vorlegte, wurde dieser
schon in den Ausschüssen abgewiegelt. Welcher Politiker legt sich
schon gerne mit einem Viertel der Wählerschaft an? "Es wäre
illusorisch zu glauben, dass dieser Brauch in absehbarer Zeit
eingedämmt werden kann", seufzten die türkischen WissenschafterInnen in
ihrem Bericht an das Ministerpräsidentenamt. (APA)